Drei Favoritinnen, bessere Texte als im Vorjahr und eine geistig durchlüftete Jury: eine Bilanz aus den ersten zwei Tagen Wettlesen in Klagenfurt.
Manches ist anders beim 39. Bachmann-Wettbewerb: Bei den Repräsentationsausgaben wurde wegen der Kärntner Finanznöte gespart, dafür hat man in Hirnschmalz investiert, die Jury rundumerneuert. Diese Durchlüftung hat dem Wettbewerb gutgetan; trotz der Kärntner Hitze konnte man schon ab dem ersten Tag eine steife Brise Geist beim Wettlesen vermerken. Selbst die schwächsten Anfangstexte waren bereits besser als die besten des Vorjahrs.
Herausragend und auf Anhieb preisverdächtig: Nora Gomringer, die von der Jury-Neuen Sandra Kegel („FAZ“) nach Klagenfurt eingeladen worden ist, sowie die dank Klaus Kastberger von Graz an den Wörthersee gelockte Valerie Fritsch. Die Poetry-Slammerin Gomringer punktete vor allem mit ihrer Performance. Für den Literaturwissenschaftler Klaus Kastberger, ebenfalls ein Jury-Neuling, funktionierte ihre „Recherche“ insbesondere, weil sie auf Zuhörerschaft hin geschrieben und von Nora Gomringer „als Medium“ perfekt dem Publikum überbracht worden ist. „Diesen Text gibt's nur, weil es uns gibt“, spitzte er die Inszenierung zu. Diese Radikallektüre wird der Vielstimmigkeit des Textes vielleicht nicht gerecht. Positiver formulierte der in der Jury ebenfalls neue Literaturredakteur Stefan Gmünder („Standard“): „Sie hat aus Sprache Welt geschaffen.“ Was kann man über Literatur Schöneres sagen?
Ein Sohn und „Das Bein“ des Vaters
Eventuell „aus Luft wird Körper“? So beschrieb Kastberger den Text „Das Bein“ von Valerie Fritsch, um bei seinen Mitjuroren keinen Zweifel an der exorbitanten literarischen Qualität zu lassen. Mit Verve warf er sich in die Schlacht um die Deutungshoheit im Halbrund des ORF-Theaters. Dabei hatte ohnehin niemand vor, Fritschs Text ans Bein zu pinkeln. Einzig der neue Vorsitzende, Hubert Winkels, äußerte sanfte Zweifel, ob die Poetik des Textes tatsächlich so zukunftsträchtig sei, wie von Kastberger behauptet. Die Diskussion darüber machte jedenfalls klar, dass die diesjährige Jury beabsichtigt, wieder mehr über inner- als außerliterarische Probleme zu diskutieren.
Am meisten ähnelte Katerina Poladjans Text „Es ist weit bis Marseille“ einem typischen Bachmann-Preis-Beitrag. Er enthielt mehrere Erzählstränge, die sich kreuzen und wieder auseinanderlaufen und denen, wie Jurorin Hildegard Elisabeth Keller meinte, „das innere Zentrum der Begegnung fehlt“. Hinter den Erwartungen zurück blieb Saskia Hennig von Lange. Unbeschrieben war und wird Sven Recker mit seinen „Figuren aus dem Klischeekaufhaus“ (Gmünder) bleiben.
Gut für eine kritikfreudige Jury begann der zweite Tag. Peter Truschners „RTL-Reptil“ ängstigte vor allem durch seine Floskeln. Mit dem ersten Satz, „Sonnenlicht fleckt das kahle Geäst“, hätte er bei dem mit sich selbst ausgetragenen Wettbewerb von Kastberger um den schönsten ersten Satz keine Chance.
Diesbezüglich preisverdächtig war hingegen der letzte Beitrag des Tages: Ronja von Rönnes „Ich wache auf und mir ist schlecht“. Die wegen ihrer antifeministischen Äußerungen umstrittene Kolumnistin hat im Vorfeld für medialen Wirbel gesorgt, mit ihrem selbstironischen Text „Welt am Sonntag“ wird ihr das weit weniger gelingen.
IS-Kämpferin werden, für den Kick
„Pose und Provokation“ attestierte ihr Meike Feßmann, die Banalität als Besonderheit verkaufe. Damit überging die Jurorin allerdings, dass es gerade der Nihilismus des postmodernen Lebens ist, den sie vorführen wollte. Ronja von Rönne will uns etwas über die existenzielle Befindlichkeit wohlstandsverloster Mädchen im Westen erzählen, die auf so absurde Gedanken kommen wie IS-Kämpferinnen zu werden, um ihrem Leben doch noch einen Kick zu verpassen. „Starker Berührungsgehalt“, urteilte Winkels. Man war uneins. Anders bei Monique Schwitter, die sich in den engsten Kreis der Favoritinnen katapultierte, mit dem Dreieckstext „Esche“. Ob darunter seine demente Mutter begraben werden soll, fragt sich ein homosexueller Protagonist im Text der von Hildegard Keller eingeladenen Autorin. Es geht um die Ökonomisierung des Sterbens, wahrlich ein großes aktuelles Thema, das die Schweizerin Schwitter souverän ausführt. Selbst Kastberger, der am Freitag lustvoll das Krokodil der Jury abgab, zollte Respekt. Mit dem Wort „Bonsai-Barock“ beschrieb er allerdings nur unzutreffend, was ihm an der Erzählung so gefallen hat. Lob liegt Stefan Gmünder mehr; er sprach vom „Glosen, Glänzen und der Wärme“ dieses Textes.
Zum Theoretisieren angeboten hätte sich Michaela Falkners „Manifest 47“. Doch gerade bei dieser politischen Parabel der sich Falkner nennenden Autorin ging die Jury auf die Struktur wenig ein. Zu groß war offenbar die Beklemmung durch die Gewaltorgie im Text, der an IS-Kämpfer denken ließ. Chancen auf einen der vier zu vergebenden Preise hat Falkners Beitrag durchaus. Und der Bachmann-Preis auf eine Zukunft über den gegenwärtigen Wettbewerb hinaus.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2015)