Ein Brot zum Auswischen des Riesenhinterns

Pantagruel als Kind
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Von neuen Riesen in Büchern von Michael Köhlmeier und Kazuo Ishiguro – und vielen alten: Was Rübezahl mit Gandalf zu tun hat und der liebenswerte Oger Shrek mit der Unterwelt.

Vor den Göttern waren die Riesen – bei den Germanen wie bei den Griechen. In der altnordischen Mythologie trifft man auf den Urriesen Ymir, er soll sich aus Tropfen entwickelt haben, als das Eis des nebeligen Niflheim auf Feuerfunken aus dem glühend heißen südlichen Muspelheim traf. Ymir zeugte weitere Riesen, auch wieder auf originelle Art – zum Beispiel, indem er einfach die Füße zusammenschlug, glaubt man der Überlieferung. Und irgendwann war die Riesin Bestla da und brachte drei Söhne zur Welt. Einer davon: Odin, auch Wotan genannt, der Göttervater.

Auch im soeben erschienenen Buch von Michael Köhlmeier, dem „Lied von den Riesen“, steht etwas darüber. Ihn „schlugen Odin und Vili tot, die Götter, denen er gedroht, er werde ihnen mit einem Biss versauen ihre Genesis“. Dass sich Götter erst mit Riesen herumschlagen müssen, um auf der Welt das Sagen zu haben, ist in der griechischen Mythologie nicht anders. Uranos zeugt da mit seiner Mutter Gaia die Titanen, drei Kyklopen und dazu noch drei hundertarmige Riesen. Dann erst kommt der Titanensohn Zeus und wird genauso wie Odin zum Riesentöter, er beseitigt die Titanen und auch noch die Giganten, ein weiteres Riesengeschlecht.


Indianische Urriesen. Es wimmelt von Riesen in den Geschichten über Weltentstehung und Urzeit, nicht nur im nordischen und griechischen Sagenkreis. Auch in vielen anderen Mythenkreisen trifft man auf Riesen oder Halbriesen, etwa in indianischen Erzählungen, in Tacitus' Beschreibungen Germaniens oder im mesopotamischen Gilgamesch-Epos, in dem der Held gegen den löwenköpfigen Riesen Humbaba kämpft.

Der für seine Neuerzählungen von Mythen berühmte österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier hat Unmengen bekannter Riesen-Figuren in sein „Lied von den Riesen“ gepackt, das einen in Versen von der Steinriesin Frau Hitt bis zum Comicriesen Hulk, von Griechenland über die Osterinseln bis nach New York zum Golem führt: ein witziges und feinsinniges Spiel mit der Tradition der Riesen-Geschichten, eine abenteuerliche Kreuzung von Ursprungsmythen und Sagen, Fantasy und anderer Riesen-Literatur. Auf den ersten Blick könnte man glauben, Köhlmeier habe die bekannten Riesen-Geschichten ungeniert mit dem Mixer neu zusammengerührt. Doch im Grunde genommen haben die Erzähler immer schon verschiedenste Riesenfiguren gekreuzt und Kinder bekommen lassen. Da haben Gestalten miteinander zu tun, von denen man es nicht erwartet hätte: Rübezahl etwa, zeigt die Sagenforschung, erweist sich in mancher Hinsicht als Alter Ego des Gottes Odin. Im hl. Christophorus, dem Christusträger, steckt ein volkstümlicher Unhold namens Offerus. Und nicht nur, dass sich Riesen in Riesen verwandeln: Da kommt in alten Märchenvarianten die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ als Riese daher, und Schneewittchen kommt zu den sieben Riesen...

Im Jenseits der Zivilisation. Riesen gehören zu den Urwesen, manchmal auch Ahnen, von denen Menschen sich gern die Erde bevölkert vorstellten, bevor sie selbst auf diese kamen. Sie verkörperten oft das überwundene Alte (deshalb sind sie auch im Totenreich anzutreffen wie die Rephaim der altisraelischen Mythologie), aber auch das in der Gegenwart gefürchtete Jenseits der Zivilisation. Auch aus realen Feinden wurden oft Riesen-Gestalten. Solche, glaubte Moses, würden in Kanaan leben, so groß, dass die Isrealiten vor ihnen klein wie Heuschrecken wären. In der Genesis ist ebenfalls von Riesen der Vorzeit die Rede, den Nephilim. Sie hätten männliche Götter als Väter und Menschenfrauen als Mütter. Auf Griechisch wurde das Wort „Nephilim“ dann einfach mit „Riesen“ (griechisch „gígantes“) übersetzt.

Auch wenn die Riesen in den Mythen vor den Menschen waren, sie leben zum Teil auch weiterhin mit ihnen und bereiten sogar den Göttern Kopfzerbrechen. In Wagners „Ring des Nibelungen“ hausen unter der Erde die Nibelungen, im Himmel die Götter und auf der Erde Menschen und Riesen – wie Fafner und Fasolt, die zunächst für ihren Bau der Götterburg wie ausgemacht die schöne Göttin Freya wollen, dann den Schatz der Nibelungen. Und auch wenn Fafner dann seinen Bruder umbringt und selbst zum den Schatz hütenden Lindwurm wird – eigentlich sind die beiden anfangs recht anständig, nur die listigen Götter wollen sie übers Ohr hauen...

Gute Riesen gibt es viele. Einer von ihnen, auch ein Schatzhüter, hat Köhlmeier zu seinem Buch inspiriert: der von André Heller entworfene Riese in Wattens, der in seinem Bauch Swarovskis Kristallwelten beherbergt. Oft sind Riesen auch Menschenfresser, dieser aber schaut ganz vegetarisch aus, freundlich, ja fast kindlich-gutmütig schaut er drein, mit seiner Haut aus Wiese. Wohlwollend ist auch der sagenhafte „Riese im Wattental“, der sich beim Ballspiel mit einem anderen Riesen den Fuß verletzt und nicht mehr wie bisher im Frühjahr die Bauern auf die Felder rufen kann; die, kaum seiner Aufsicht entgangen, werden faul und müssen deshalb hungern.

Pantagruel uriniert auf Paris. Man sieht diesen Riesen, besagt diese Sage, noch als Felsen im Inntal. Aber nicht er, sondern ein ebenfalls in Tirol angesiedelter weiblicher Steinriese spielt eine Hauptrolle in Köhlmeiers Riesen-Geschichte. Es ist Frau Hitt, die in Köhlmeiers Buch als Urriesin eine ganz besondere Rolle spielt: Sie sei durch einen Fluch zu Stein erstarrt, erfährt man, habe aber ein Söhnlein hinterlassen, das bei Köhlmeier nun durch die Lande und Zeiten reist, auf der Suche nach Erlösung für seine arme Mama. Diese hat ihr Los nicht verdient, besteht doch, so Köhlmeier, ihr Verbrechen darin, dass sie nicht wusste, was ein Laib Brot ist – und ihrem Bübchen damit den Hintern auswischte...

Diese Version der Frau-Hitt-Sage ist nun wirklich neu (bekannt ist zum Beispiel, dass sie einer Bettlerin nur einen Stein zu essen anbot) – und wohl von einem Franzosen inspiriert. Im lustvoll vulgären und grotesken Romanzyklus „Gargantua und Pantagruel“ des Renaissancedichters François Rabelais nämlich wird die Klugheit des Riesen Gargantua daran erkennbar, dass dieser nach einem Test mit u. a. Pflanzen, Hüten, Kleidern, Hasen und Tauben den besten „torche-cul“ („Arschwisch“) herausfindet: „ein flaumiges Gänslein“. Auch Gargantua und sein Sohn Pantagruel sind rechtschaffene Kerle, auch wenn sie keine Manieren haben (so uriniert der Vater von der Kathedrale Notre-Dame auf Paris herab, sodass die Pariser um ihr Leben schwimmen müssen).

Ein grundsätzlich guter Riese ist auch Rübezahl, der Berggeist des tschechisch-schlesischen Riesengebirges. Äußerst launisch und arglistig ist er zwar in älteren Versionen, und in seinem Namen vermutet man den Hinweis auf einen geschwänzten Dämon (der Eigenname „Riebe“ stecke darin und das mittelhochdeutsche „zagel“ für Schwanz). Doch Rübezahl hat nicht nur dämonische Züge, er tritt auch als gerechter Bestrafer, Beschützer und Belohner auf – ja, er scheint sogar in manchem aus Erzählungen über den Göttervater Odin entstanden zu sein, der in Geschichten durch die Lande wandert und prüft, ob die Menschen sich anständig verhalten.

Rübezahl als Gandalf-Vorbild. Etwas von Rübezahl steckt aber auch in einer Figur aus „Herr der Ringe“. Der von der nordischen Götterwelt faszinierte Tolkien brachte aus einem Schweiz-Urlaub eine Postkarte mit einem Bild des deutschen Malers Josef Madlener mit. Es heißt „Der Berggeist“ und zeigt einen Rübezahl-Darstellungen ähnlichen Greis mit abstehendem weißem Bart. Auf den Papierumschlag schrieb Tolkien: „the origin of Gandalf“.

Sogar einem katholischen Heiligen, dem erst im Mittelalter „erfundenen“ heiligen Christophorus liegt vermutlich u. a. eine Sagenfigur zugrunde: der zehn Meter große Unhold Offerus. Ob der französische Autor Michel Tournier diesen Stoff kannte? Der Riese Abel in seinem Roman „Le roi des aulnes“, einer Parabel über den Nationalsozialismus, stapft am Ende geläutert mit einem jüdischen Jungen auf den Schultern durch den Sumpf und denkt an die Legende vom heiligen Christophorus.

„Ogre“, Oger nennt die englische Übersetzung des Romans ihn – ein Wort, das der französische Märchenerzähler Charles Perrault aufbrachte und das vom „orcus“, der römischen Unterwelt, kommt. Oger sind Riesen und Menschenfresser zugleich, auch diese Verbindung zieht sich durch die Literatur. Der einäugige Polyphem gehört ebenso dazu wie der von einem Mädchen gezähmte Riese in Tomi Ungerers gleichnamigem Kinderbuchklassiker „Zeraldas Riese“ oder der vom jiddischen Wort für „Schrecken“ benannte Oger Shrek. Riesen, das zeigt auch Oscar Wildes Kunstmärchen „Der selbstsüchtige Riese“ oder der mit Harry Potter befreundete Halbriese Hagrid, sind im Grunde auch nur Menschen: einsame Außenseiter. Schreckt man sich nicht vor ihnen, werden sie sogar liebenswert. Die Paradefigur dafür ist der Scheinriese Tur Tur aus Michael Endes „Jim Knopf“-Geschichten – je näher man ihm kommt, desto kleiner wird er.

Riesig wird, wovor man Angst hat. Manchmal ist es die Erinnerung, und diese liegt als „begrabener Riese“ auch dem gleichnamigen neuen Roman des britischen Schriftstellers Kazuo Ishiguro zugrunde, der Ende August auf Deutsch erscheint. Er spielt in einem mythischen Britannien des 5. Jahrhunderts, Riesen und Drachen kommen darin zwar wirklich vor, aber wenig lebendig, sie erscheinen zur Metapher versteinert. Bei Ishiguro ist es allzu klar: Der begrabene Riese ist die verdrängte Erinnerung. Die besten Riesen-Geschichten, von den alten Sagen bis Köhlmeier, haben es genau umgekehrt gemacht – in ihnen werden die Riesen sogar lebendig, wenn sie aus Stein sind.

Vier Riesen- KLASSIKER

„Gargantua und Pantagruel“ von François Rabelais.
Der Romanzyklus des Renaissancedichters greift volkstümliche Traditionen auf und wurde von der Pariser Universität Sorbonne auf die Liste verbotener Bücher gesetzt: respektlose Gesellschaftssatire und lustvoll vulgär.

„Der selbstsüchtige Riese“ von Oscar Wilde.
„The Selfish Giant“ ist eines der berühmtesten Kunstmärchen. Ein Riese errichtet um sein Anwesen eine Mauer, die jedoch ewigen Winter in seinem Garten verursacht. Erst eindringende Kinder bringen den Frühling, der Riese wird zum Freund und Helfer.

„Zeraldas Riese“ von Tomi Ungerer.
Menschenfressende Riesen haben oft eine Vorliebe für Kinderfleisch, wie der einsame, stets hungrige Riese im wunderbaren Klassiker von Tomi Ungerer. Die Kochkünste der kleinen Zeralda zähmen ihn.

„Shrek!“ von William Steig.
Der durch die Verfilmung weltberühmt gewordene Riese aus dem Bilderbuch des US-Cartoonzeichners und Kinderbuchautors William Steig wird „ogre“, Oger genannt, steht also wie „Zeraldas Riese“ in der Tradition der Menschenfresser. Der Name „Shrek“ kommt vom jiddischen Wort für „Schrecken“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2015)

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