Plagiatsvorwurf: Darf Wikipedia im Roman sein?

Multitalent Rubinowitz bei seiner Ausstellung „The Nul Pointers“ im Leopold-Museum im Mai.
Multitalent Rubinowitz bei seiner Ausstellung „The Nul Pointers“ im Leopold-Museum im Mai.Die Presse
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Tex Rubinowitz wird Abschreiben von Wikipedia vorgeworfen. Auch Houellebecq kopiert gern daraus. Dass sie es tun, ist nicht so schlimm – höchstens das Wie.

Jedes Weibchen kann bis zu 500 oder sogar 1000 Eier legen, im Allgemeinen in fünf Durchgängen mit jeweils um die 100 abgelegten Eiern. Die Eier sind klein und circa 1,2 mm lang. Nach nur einem Tag schlüpfen die Larven (asticots).“ So steht es in der französischen Wikipedia. Und so bei Michel Houellebecq: „Jedes Weibchen der Musca domestica kann bis zu 500 und bisweilen 1000 Eier legen. Die Eier sind klein und circa 1,2 mm lang. Nach nur einem Tag schlüpfen die Larven (asticots).“ Natürlich steht beides eigentlich auf Französisch; aber die wörtliche Übersetzung zeigt, dass Houellebecq die Beschreibung der Hausfliege im Roman „Karte und Gebiet“ praktisch wörtlich aus dem Lexikon kopiert hat. Und nicht nur sie, auch einige andere Stellen im Buch enthalten kurze, fast wörtliche Übernahmen aus Wikipedia.

Mitverfasser des Blogs „Der Umblätterer“ haben nun auch beim Zeichner und Autor Tex Rubinowitz solche Stellen entdeckt. Im Frühjahr erschien der jüngste Roman des Bachmannpreisträgers 2014, „Irma“. Man könnte diesen streckenweise „Irmapedia“ nennen, schlagen die Blogger in der „FAZ“ nun vor, „denn was darin zum Haussperling, zu ,Deep Space Nine‘, zu Mary Hopkin, zu Bruce Dickinson, zu den Najaden und noch zu ein paar anderen Sachen steht, ist satzweise und ohne Quellenangabe aus der Wikipedia rausgeklaubt.“ Als Beispiel zitieren sie das Lexikon: „In Europa ist der Haussperling fast ausschließlich Standvogel, in geringem Ausmaß auch Kurzstreckenzieher. Nicht dauernd von Menschen bewohnte Siedlungen im Alpenraum werden im Spätherbst oder Winter auch vom Haussperling geräumt.“ Bei Rubinowitz wird daraus: „Spatzen sind in Europa sogenannte Standvögel, nur die wenigsten sind Kurzstreckenzieher, lediglich nicht dauernd von Menschen bewohnte Siedlungen im Alpenraum werden im Spätherbst oder Winter vom Haussperling geräumt.“

Alte und neue „Kuckuckseier“

Gute Bücher könne man ja gleich „Nestbau für Kuckuckseier“ nennen, schrieb Friedrich Arnold Brockhaus im Jahr 1818 bitter über einen unerlaubten Nachdruck seines Lexikons: „Und wessen Eier brütet dann der ehrliche Buchhändler aus?“ Auch Irma im Roman erinnert die Spatzenpassage an „ein Kuckucksei“, das die Geschichte kaputt machen könne. Rubinowitz hat also selbst eine Anspielung auf die früher gern „Kuckuckseier“ genannten Plagiate eingebaut.

Ein Hinweis des Rowohlt-Verlags darauf, dass sich einige Beschreibungen auf Wikipedia stützen, wäre wohl dennoch angemessen gewesen – zumal sich am Ende des Buchs sogar ein Quellenverzeichnis befindet; seit den Plagiatsvorwürfen gegen Helene Hegemann, die im Roman „Axolotl Roadkill“ zum Teil wörtlich Stellen aus einem Blog kopiert hat, ist man ja vorsichtig...

Sieht man freilich, wie viele Passagen der Schweizer Urs Mannhart fast wörtlich vom Roman „Bis ins Eismeer“ des Österreichers Thomas Brunnsteiner in ein Buch übernommen hat, ohne dass das Zürcher Gericht darin ein Plagiat gesehen hätte (im Juli kam es zum Vergleich), dann wirken die paar Wikipedia-Stellen in „Irma“ wie eine Petitesse. Außerdem muss man von derlei einzelnen Übernahmen nichts wissen, um Bücher zu beurteilen; denn diese werden davon weder weniger noch mehr wert, entscheidend ist allein das Wie und Drumherum. Ist es plumpe Abschreiberei, ist meist auch der ganze Text plump. Nicht jeder kann's eben wie Thomas Mann; er kopierte die Beschreibung von Hanno Buddenbrooks Typhuserkrankung fast wörtlich aus Meyers Konversationslexikon – und schuf mit diesem „Plagiat“ eine der beklemmendsten Stellen seines Romans.

INTERTEXTUALITÄT ODER PLAGIAT?

„Axolotl Roadkill“, der Debütroman der 18-jährigen Deutschen Helene Hegemann, erntete 2010 hymnische Kritiken, bis sich herausstellte, dass die Autorin viele Passagen vom Berliner Blogger Airen kopiert hatte. Das Buch löste eine heftige Debatte über die Grenze zwischen Plagiat und Intertextualität aus. Es gewann dennoch den Leipziger Buchpreis, nachfolgende Ausgaben wurden mit einem Quellenverzeichnis versehen. Ein solches hat auch Tex Rubinowitz' Roman „Irma“. Allerdings fehlt darin der Hinweis auf Wikipedia.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2015)

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