Und Blaise Pascal raunte: „Sie müssen das Spiel spielen!“

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So unterhaltsam und elegant wurde die Geschichte der Spieltheorie wohl noch nie erzählt: In der „Mathematik des Daseins“ führt Rudolf Taschner den Leser von Mozart über das Wien der Zwischenkriegszeit bis Princeton – als ebenso kunstvoller Pädagoge wie Erzähler.

Sherlock Holmes ist im Zug nach Dover, in einem anderen Waggon sein bewaffneter Verfolger Moriarty. Auf dem Weg nach Dover bleibt der Zug einmal stehen, in Canterbury. Hat der Detektiv mehr Chancen zu überleben, wenn er auf der einzigen Zwischenstation Canterbury aussteigt oder wenn er bis nach Dover fährt? In Europa tobt der Zweite Weltkrieg, als der aus Wien nach Princeton emigrierte Ökonom Oskar Morgenstern mit diesem Dilemma aus Doyles Kurzgeschichte „The Final Problem“ zu einem ebenfalls dort lehrenden gebürtigen Budapester kommt, dem genialen John von Neumann. Der analysiert das Problem wie ein Pokerspiel. Seine Antwort (Holmes möge würfeln und bei eins oder zwei bis Dover fahren) dürfte für einen um sein Leben Bangenden unbefriedigend sein. Für das Verständnis menschlichen Handelns war sie folgenreich: Morgenstern und Neumann wurden mit ihrem Buch „Spieltheorie und ökonomisches Verhalten“ zu Begründern der Spieltheorie.

Deren Geschichte umrankt der Wiener Mathematiker Rudolf Taschner in seinem neuen Buch, „Die Mathematik des Daseins“, so kunstvoll und anekdotenreich mit im Präsens erzählten „So könnte es gewesen sein“-Geschichten, dass man ihm fast einen Roman zur Spieltheorie zutrauen kann. Als durch die Zeiten wirbelnder Zaungast lernt man auf jeder Seite genussvoll und immer wieder staunend dazu: etwa im Kloster bei Blaise Pascal, der im Gespräch mit einem Spielerfreund die Wahrscheinlichkeitsrechnung weiterentwickelt, oder im Wien der Zwischenkriegszeit. Dort sucht Karl Menger – Sohn des (bis auf ein C im Vornamen) gleichnamigen Schöpfers der österreichischen Schule der Nationalökonomie und Privatlehrer Kronprinz Rudolfs – nach mathematischen Werkzeugen, um Interaktionen zwischen Menschen und (zum Beispiel politischen) Gruppen zu beschreiben.

Im Herzen dieses Geschichtenreigens stehen auch berühmte spieltheoretische Probleme wie das „Sankt-Petersburg-Paradoxon“, das „Ziegenproblem“ oder das „Gefangenen-Dilemma“; Taschner führt sie so vor, dass auch zur Mathematik nur durchschnittlich Begabte sie verstehen können – und mit einer verspielten Eleganz, die selbst einen Exkurs zu Mozarts „Figaro“ perfekt ins Thema fügt. Dieses Stück lehrt Taschner auch: „Der rein rationale Spieler ... ist bei dem für die eigene Existenz entscheidenden Spiel auf der Weltenbühne fehl am Platz. Wer im Leben das Moment des Irrationalen, des Spontanen, des Impulsiven außer Acht lässt, übersieht das Wesentliche.“

Ein letztes Spiel am Totenbett

Das letzte Wort hat hier dennoch ein Rationalist und Rechner, Blaise Pascal, der sterbend dem Freund zuraunt: „Sie müssen das Spiel spielen!“ Welches? Das einzig ernste, das „Spiel ums Dasein“, berühmt als Pascal'sche Wette: Zu viele Indizien sieht der Philosoph für die Existenz eines Schöpfergottes, zu wenig, um sicher zu sein, was tun? Jeder rationale Spieler, sagt Pascal, muss auf den Glauben setzen. Setzt er nämlich auf den Unglauben, kann er nur verlieren – setzt er auf den Glauben, nichts verlieren, aber alles gewinnen. Dies soll auch das letzte Spiel gewesen sein, das den bis dahin als unreligiös bekannten Spieltheoretiker John von Neumann beschäftigte – ebenfalls auf dem Totenbett...

ZUR PERSON

Rudolf Taschner, geboren 1953 in Niederösterreich, lehrt seit 1977 als Professor an der TU Wien. Er ist Mitbetreiber des math.space im Wiener MuseumsQuartier und „Presse“-Kolumnist. 2004 wurde er „Wissenschaftler des Jahres“. Nach der „Zahl, die aus der Kälte kam“ (2013) ist nun „Die Mathematik des Daseins“ bei Hanser erschienen. [ Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2015)

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