Oliver Sacks: Der Poet unter den Hirnforschern

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Fallstudien wie jene vom "Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" machten Oliver Sacks weltberühmt: Über den mit 82 verstorbenen Neurologen und Autor.

Allein schon die Titel seiner Bücher bleiben im Gedächtnis: „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ etwa oder „Der Tag, an dem mein Bein fortging“. Wie sich Veränderungen im Gehirn auf das Welt-Erleben von Menschen auswirken, konnte Oliver Sacks so anschaulich und humorvoll schildern wie kaum einer: Und so wurde aus dem bewunderten britischen Neurologen mit der Zeit ein bewunderter Bestsellerautor. „Eine winzige Hirnverletzung, ein kleiner Tumult in der cerebralen Chemie – und wir geraten in eine andere Welt“, zeigte er an immer neuen Fallstudien. Jener Mann etwa, „der seine Frau für einen Hut hielt“, litt an sogenannter visueller Agnosie (Seelenblindheit) – er sah Farben, Muster, Bewegung, konnte das Gesehene aber zu keinem Sinn verbinden oder wiedererkennen; so versuchte er auch einmal, sich den Kopf seiner Frau als Hut aufzusetzen.

Oliver Sacks, der nun mit 82 Jahren in New York gestorben ist, betrieb „romantische“ Wissenschaft, wie der russische Neuropsychologe Alexander R. Lurija es genannt hat: eine Wissenschaft, die beim Studium den einzelnen kranken Menschen ins Zentrum rückt. In diese Richtung bewegte er sich schon in den 1960er-Jahren, als er in einem Spital in der New Yorker Bronx auf seit Jahrzehnten „eingefrorene“ Patienten stieß; sie hatten die Europäische Schlafkrankheit überlebt, eine nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit wütende Epidemie. Sacks experimentierte mit L-Dopa, einer Vorstufe des Neurotransmitters Dopamin, und beschrieb das dadurch verursachte vorübergehende erstaunliche, im Einzelnen sehr unterschiedliche Aufwachen der Patienten in seinem Buch „Zeit des Erwachens“ („Awakenings“). Harold Pinter verwendete einige dieser Fallgeschichten für ein Theaterstück, weltberühmt machte Sacks aber 1990 der gleichnamige Film mit Robin Williams und Robert De Niro.

„Der Tag, an dem mein Bein wegging“

Sacks Bücher würdigen das Individuum hinter dem „Kranken“, sie zeigen, wie „Realitäten“ im Kopf entstehen, und erschüttern damit auch ein allzu einfaches Verständnis von Normalität. Dabei kam der Autor wohl auch deswegen zu so vielen Einsichten, weil er nicht nur seine Patienten genau und mit großem Einfühlungsvermögen beobachtete, sondern auch sich selbst. Die titelgebende Fallgeschichte im Buch „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ („A Leg to Stand on“) etwa war seine eigene: Sacks war beim Wandern eine Oberschenkelmuskelsehne gerissen; er schilderte im Buch seine Patientenperspektive. In vielen Essays etwa in der „New York Times“ hat er über die Funktionsweisen unseres Gehirns nachgedacht – und ging dabei von eigenen Beobachtungen aus. So registrierte er als alter Mann etwa genau, wie verschüttete frühe Erinnerungen in seinem Geist auftauchten – und erkannte schockiert, dass darunter falsche waren (etwa die „Erinnerung“ an einen Bombenangriff in London, den er, wie er recherchierte, nie miterlebt haben konnte). Sacks' großes Talent war, aus solchen persönlichen Beobachtungen allgemeine Einsichten – in diesem Fall zur Fehlbarkeit, aber auch Flexibilität und Kreativität des Gedächtnisses – zu gewinnen.

Dem Mann, „der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, half Musik – und dies inspirierte Sacks in späten Jahren zur Beschäftigung mit den Zusammenhängen von Musik und Gehirn; ein Resultat war das Buch „Der einarmige Pianist“ („Musicophilia“). Das Genie Mozart erklärte er in einem Interview als „genetischen Unfall“, der außerdem perfekt gefördert worden sei.

„Habe nur noch Monate zu leben“

Immer mehr schrieb Oliver Sacks im Lauf seines Lebens über dieses, so veröffentlichte er Ende 2014 die Autobiografie „On the Move“, in der er sich auch zum ersten Mal öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte. Wenige Wochen darauf erzählte er in einem bewegenden, erschütternd offenen Artikel in der „New York Times“ von seinem baldigen Tod. Der 81-Jährige, der sich gesund und sportlich fühlte, hatte erfahren, dass seine Leber voller Metastasen war und er nur noch wenige Monate zu leben habe.

Diese Monate sind nun vorbei – Oliver Sacks ist mit 82 Jahren in New York verstorben ist. Mit seinem Artikel über seine Krankheit hat er im Frühjahr wohl vielen Mut gemacht – er betonte darin die Dankbarkeit für ein reiches Leben: „Vor allem war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Wesen, auf diesem schönen Planeten, und das allein war ein enormes Privileg und Abenteuer.“

ZUR PERSON

1933 wurde Oliver Sacks in London als Kind jüdisch-orthodoxer Mediziner-Eltern geboren. Er studierte Medizin in Oxford und ging 1960 in die USA. Zuletzt unterrichtete er an der Columbia University, auch Musiktheorie. Bei Rowohlt erschienen u.a. seine Fallgeschichten „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (1985), „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ (1989) und „Eine Anthropologin auf dem Mars“ (1995), außerdem die Bücher „Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn“ (2008) und heuer „On the Move – Mein Leben“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2015)

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Das Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" ist das bekannteste Werk von Sacks.

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