Naher Osten: Eine Region zerfällt

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Volker Perthes sieht Europas Nachbarschaft am Beginn einer turbulenten Phase.

Volker Perthes verkörpert, wenn man ihn in seinen diversen Fernsehauftritten beobachtet, so etwas wie die fleischgewordene Sachlichkeit und Klugheit. Der Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, der renommiertesten deutschen Denkfabrik, ist ein herausragender Kenner des Nahen und Mittleren Ostens. Das beweist er auch in diesem Essay wieder.

Perthes sieht die ganze Region „erst am Beginn einer langen Phase der Turbulenzen“. Er prophezeit eine Periode von Wandlungsprozessen, die kein Land völlig unberührt lassen werde. Schon angesichts der demografischen Herausforderungen sei es schlicht unvorstellbar, das selbst derzeit noch als besonders stabil erscheinende Staaten wie Saudiarabien und der Iran keinen politischen und soziokulturellen Wandel durchlaufen würden. Die Tendenz, die Perthes ausmacht, ist „der Zerfall der regionalen Ordnung“.

Weder Syrien noch der Irak, so eine weitere Prognose des Experten, würden „als zentralistische Staaten oder gar als autoritär regierte Einparteienstaaten in ihren heutigen Grenzen wiederentstehen“. Ohne neue Formen der Machtteilung, die alle relevanten Bevölkerungsgruppen einbindet, würden auch weitere Staaten der Region wie Jemen oder Libyen über kurz oder lang zerfallen.

Im Gegensatz zu anderen Analytikern sieht Perthes auch keine Wiederaufnahme eines „Great Games“ ausländischer Mächte um Einfluss in der Region (sie zeigten kein Interesse, dort eine Neuordnung vorzunehmen). Dafür tobe zwischen Sunniten und Schiiten ein erbitterter Kampf um die „richtige“ Form des politischen Islam, der die konfessionelle Polarisierung noch verschärfe.

Noch eine Prognose von Perthes: Ohne eine Entspannung zwischen dem Iran und Saudiarabien sei in Syrien und im Irak keine Konfliktlösung möglich, und das „Gift der Konfessionalisierung“ werde sich ausbreiten und weitere Länder befallen. Und wieder wird auch Europa die Folgen zu spüren bekommen. Ein erhellender, ein wichtiger Essay! (b.b.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2015)

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