Lettering: Schönschreiben zum Stressabbau

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Schreibschrift hat massiv an Bedeutung verloren. Doch mit Lettering erlebt die kreative Gestaltung handgemalter Buchstaben als Hobby eine neue Blütezeit.

Bewegte Zeiten für die Handschrift: Während sie im schulischen Kontext im Zeitalter von Tablets und Handys inzwischen umstritten ist und erste Länder sie bereits abschaffen wollen, erlebt die Schreibschrift abseits der Klassenzimmer eine neue Blütezeit. „Lettering“ heißt heute, was einst unter Kalligrafie fiel; die Kunst des schönen Schreibens beschäftigt Facebook- wie Instagram-Gruppen, Interior Designer wie Wedding Planner. Der Trend veranlasst Künstler und Volkshochschulen, Kurse anzubieten sowie Verlage, neue Bücher zum Thema zu veröffentlichen. Erst dieser Tage ist in der Münchner Verlagsgruppe das Werk „Kreatives Lettering und mehr“ erschienen, in dem die Schönschreiberinnen Gabri Joy Kirkendal, Laura Lavender, Julie Manwaring und Shauna Lynn Panczyszyn Anleitungen von den Grundregeln der Kalligrafie bis zur Herstellung gestickter, monogrammierter Cocktailservietten geben.

Neu sind dabei vor allem die Anwendungsgebiete, denn die Kunst des schönen Schreibens ist so alt wie die Schrift selbst. Sie wurde einst in allen großen Religionen für die Übertragung heiliger Texte verwendet, in den Klöstern des europäischen Mittelalters entstanden dabei mit großem Zeitaufwand bekanntlich wahre Kunstwerke. Heute sind die Produkte, die verziert werden, ungleich profaner: Mit kunstvollen Buchstaben werden im dritten Jahrtausend Kinderzimmerwände und Hochzeitseinladungen geschmückt, Geschenksanhänger und Tischdekorationen hergestellt und in Gasthäusern die Menütafeln beschrieben.

Wobei bei Weitem nicht jede Verkündung des Mittagsmenüs etwas mit Lettering oder gar Kalligrafie zu tun hat. Denn diese folgt Regeln, die erst einmal erlernt werden wollen, ehe sie beim „Kreativen Hand-Lettering“ kunstvoll gebrochen werden dürfen. So nimmt Autorin Lavender ihre Leser mit auf einen Kurs, der von der optimalen Sitzhaltung über das korrekte Ansetzen der Spitzfeder bis zur richtigen Strichführung und Proportionierung reicht, und einen Stil vermittelt, den die Autorin als „moderne Klassik“ bezeichnet, die zwar bei den Buchstabenformen auf alten Kalligrafiestilen basiere, sich jedoch nicht strikt nach den Vorgaben traditioneller Schulen der Spitzfeder-Kalligrafie, wie etwa Copperplate- oder Spencer-Schrift, richte.

Sticken und Brennen. Von dieser ersten Einführung in die Kalligrafie führt der Weg nach einer kleinen Materialkunde und diversen Übungen zu Themen wie dem illustrierten Lettering, dem Kreide-Lettering – was wieder für die Menükarten interessant ist – bis zum Thema Lettering-Handwerk, bei dem Techniken vom Sticken bis zum Holzbrennen schöner Buchstaben erklärt werden.
Die Ergebnisse des Erlernten finden sich dann oft in den sozialen Netzwerken wieder, wo stolz Bilder des schön Geschriebenen gepostet und verglichen werden, ähnlich wie bei dem Schwester-Trend zu Ausmalbüchern, die heute zunehmend die Erwachsenenwelt erobern („Die Presse am Sonntag“ berichtete).

Was aber macht das händische (Aus-)Malen weitgehend vorgegebener Muster plötzlich wieder so attraktiv für die Digital Natives und ihre Eltern? „Das Abschalten“, ist Psychologin Natalia Ölsböck überzeugt, und zwar im doppelten Sinne. „In Zeiten der Reizüberflutung durch das permanente Online-Sein geht es hier wirklich darum, abzuschalten und sich Zeit für Ruhe, Entschleunigung und Langsamkeit zu nehmen.“ Außerdem lasse sich schon seit einiger Zeit ein Trend dahin beobachten, wirklich wieder etwas mit den Händen zu tun. „Vor einigen Jahren noch wäre man fürs Stricken ausgelacht worden, jetzt gilt es wieder als toll“, so die Psychologin.

Kein Fernsehen nebenbei. Allerdings lassen Handarbeiten wie das Stricken noch ein Hintertürchen offen, um sich trotzdem noch den Vorgängen in der digitalen Welt zu widmen: Das weitgehend mechanische, wenn auch beruhigende Klappern mit den Nadeln hält den Entspannungssuchenden nicht zwangsweise davon ab, nebenbei noch den Fernseher und das Handy im Blick zu behalten, das können die neuen Hobbys wie Lettering und Ausmalen um einiges besser.

„Die Leute leiden heute auch unter Freizeitstress“, sagt Ölsböck, „man will so vieles unterbringen und so viele Angebote nutzen – und man erlegt sich damit selbst einen Druck auf, den man durch Tätigkeiten wie das Handarbeiten wieder ausgleichen will“. Wobei das Malen auch in weniger kunstvollen Varianten von Haus aus beim Entspannen eine große Hilfe sein kann – wie jeder weiß, der sich durch stressige Telefonate oder aufreibende Konferenzen mit dem Bekritzeln diverser Unterlagen hangelt. „Stress ist grundsätzlich eine Energie, die in mir aufsteigt“, erklärt die Psychologin, warum wir das tun, „und eine motorische Tätigkeit wie das Kritzeln ist ein Ventil, über das ich diese Energie rauslassen kann.“

Umso hilfreicher beim Stressabbau ist es, wenn dieser Vorgang nicht nur in Form hektischer Kritzeleien stattfindet, sondern im Umgang mit schönen Materialien und Motiven, die an das Ende des Entschleunigungs- und Entspannungsprozesses auch noch ein Erfolgserlebnis stellen.

Ein anderer Aspekt, der die neuen Hobbys für viele so attraktiv macht, ist das Vorhandensein gewisser Regeln. Was bei echten Kreativen für hochgezogene Augenbrauen sorgt, ist für den Entspannungssuchenden oft das Asset: die Vorgaben, die nur noch einen Teil der künstlerisch-kreativen Tätigkeit – wie etwa das Auswählen der Farben oder der Anordnung der Schriften – dem Handarbeiter überlassen. „Orientierung und Kontrolle gehören zu den Grundbedürfnissen des Menschen, und gerade für Menschen, die untertags vieles selbst entscheiden müssen, kann es hilfreich sein, nach Vorgaben zu arbeiten, damit Kontrolle abzugeben und nicht immer das Steuer in der Hand zu halten“, erklärt Psychologin Ölsböck, worin das Angenehme der Regeln liegen kann.

Wenn die Stille, die Langsamkeit und auch das fehlende Flackern des weißen Papiers oder der schwarzen Tafel genossen und das Werk vollendet ist, wird allerdings gemeinsam in die digitale Welt zurückgekehrt. Das wissen auch die Buchautorinnen, die ausführlich erklären, wie sich die kalligrafischen Werke in möglichst großer Perfektion fotografieren und digitalisieren lassen, um dann vervielfältigt und gepostet werden zu können.

Herzeigen im Internet. Ein Wunsch, den Ölsböck aber keineswegs als Widerspruch zu der Suche nach dem Abschaltknopf interpretiert: „Da geht es einfach darum, dass man stolz auf etwas ist und das auch herzeigen möchte“, meint die Psychologin. Und das tut man heute nun einmal online und auf den Plattformen der sozialen Medien wie Instagram oder Pinterest. Flackernder Hintergrund hin, permanentes Online- und Verfügbarsein her.

Buchtipp

Lettering

Kreatives Lettering und mehr. Von Gabri Joy Kirkendall, Laura Lavender, Julie Manwaring.
mvg Verlag, 17,50 Euro


Der Begriff: Unter „Lettering“ verstand man ursprünglich das Beschriften von Sprechblasen in Comics. Zuletzt fand der Begriff vor allem bei Beschriftungen Anwendung, die per Hand und in liebevoller Kleinarbeit – etwa auf Speisetafeln in Lokalen – ausgeführt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2015)

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