Mankells letzter Text: "In der Nacht zogen kalte Windstöße vorbei"

 Henning Mankell: „Krebs ist in all seinen Formen eine elende Krankheit. Aber es ist möglich, gegen sie zu kämpfen.“
Henning Mankell: „Krebs ist in all seinen Formen eine elende Krankheit. Aber es ist möglich, gegen sie zu kämpfen.“(c) REUTERS (TOBIAS SCHWARZ)
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Der Autor schöpfte kurz vor seinem Tod noch Hoffnung. Sein Tumor wuchs nicht mehr. Es war der Wunsch des Verlags, den bisher unveröffentlichten Beitrag aus seinem Tagebuch in der „Presse“ abzudrucken.

"Bald beginnt das dritte Jahr mit meiner Krebserkrankung. Gestern war ich im Sahlgrenschen Krankenhaus und bekam Chemotherapie. Ein schöner Herbsttag mit einer Sonne, die wärmte. Im Moment muss ich bis Dezember jede Woche einmal zur Behandlung. Um vor allem meine Nieren zu schonen, werden die Medikamente der Chemotherapie in kleineren Dosen verabreicht als bisher.

Bei einem früheren Besuch berichtete eine der Krankenschwestern von einer anderen Patientin, wir wollen sie X nennen, die ihr erzählt hatte, dass die Artikel, die ich zuvor in der Tageszeitung „Göteborgs Posten“ über meine Krankheit und den unheimlichen Krebs, der ihr und mein Begleiter geworden war, geschrieben hatte, ihr viel Trost gespendet und Kraft gegeben hatten.
Ich begriff, dass sie an dem gleichen Krebs litt wie ich, wenngleich sie schwerer erkrankt war. Außerdem war sie jung, kaum älter als dreißig Jahre.

Nun wollte es der Zufall, dass sie am selben Tag wie ich zur Behandlung gekommen war. Ich ging in ihr Zimmer und wir unterhielten uns eine Weile. Eine schöne junge Frau mit großer Lebenskraft in den Augen. Gleichzeitig konnte ich sehen, dass ihr bewusst war, wie ernst es um sie stand. Es kam mir vor, als sähe ich mich selbst bald drei Jahre zuvor. Als ich erfahren hatte, dass meine Krebserkrankung unheilbar war, ernst – aber immerhin behandelbar, um sie bestenfalls in einem chronischen Zustand zu halten.

Menschlicher Triumph

Damals erkannte ich, dass ich zwanzig Jahre früher binnen relativ kurzer Zeit tot gewesen wäre, die Krebsforschung und die Behandlungsmöglichkeiten aber stellen einen menschlichen Triumph dar, der davon erzählt, was wir erreichen können, wenn wir es wirklich wollen. Jeden Monat, vielleicht sogar jeden Tag werden neue ausgeklügelte Entdeckungen zu verbesserten Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten gemacht. Die Forscher dieser Welt bilden ein gemeinsames Team. Ein siegreiches Team.

Ich habe längere Zeit keinen Artikel über die Krankheit geschrieben. Als hätte ich nichts zu sagen gehabt. Die Wahrheit sieht jedoch anders aus. Auch wenn der Krebs heute kein Todesurteil mehr bedeutet, ist die Krankheit dennoch heimtückisch und unberechenbar.

Um die Mittsommerzeit dieses Jahres wurde mehr oder weniger zufällig bei einer routinemäßigen Blutuntersuchung im Behandlungszentrum entdeckt, dass mein gesamtes Immunsystem zusammengebrochen war. Was mit einer Heimfahrt im Auto enden sollte, mündete unverzüglich in eine Krankenwagenfahrt in die Klinik – zumal man entdeckt hatte, dass ich eine beidseitige Lungenentzündung hatte.

Dort lag ich dann zehn Tage. Ich erinnere mich mit Grauen daran, wie ich einmal auf dem Weg zur Toilette hinfiel und es mir nicht gelang, wieder auf die Beine zu kommen. Es war eine Erniedrigung und Demütigung, die ich nie vergessen werde. Es dauerte Monate, diesen Zusammenbruch zu überwinden. Ich habe bis jetzt einfach nicht die Kraft gehabt zu schreiben. Aber wieder einmal fand das Krankenhaus die Lösung für meine Situation. Und bald beginnt das dritte Jahr mit meinem unheilbaren Begleiter.

Abhängig von Familie, Freunden

Bald drei Jahre. Wie hat sich mein Leben verändert? Obwohl mir die meisten Nebenwirkungen erspart geblieben sind, wenn man von der stets gegenwärtigen Müdigkeit absieht, wodurch ich nur noch etwa halb so viel Energie habe wie früher.

Meistens merke ich nichts von dem Krebstumor, der in meinem linken Lungenflügel sitzt. Im Moment wächst er nicht, wird aber auch nicht kleiner. Die Chemotherapie zwingt ihn, passiv zu bleiben. Phasenweise habe ich unter Atemnot gelitten, aber das ist mittlerweile vorbei. Manchmal muss ich mir selbst in Erinnerung rufen, dass ich eine schwere Krebserkrankung habe, weil sie sich überhaupt nicht bemerkbar macht. Müde kann man schließlich aus unterschiedlichen Gründen werden. Ist nicht das Älterwerden selbst schon Grund genug?

Krebs ist in all seinen Formen eine elende Krankheit. Aber es ist möglich, gegen sie zu kämpfen. In meinem Fall mithilfe des Personals im Sahlgrenschen Krankenhaus. Ich gehe meinem dritten Jahr entgegen.

Doch natürlich gibt es auch düstere Momente. Tiefe Finsternis aus Sorge, Einsamkeit und Angst. Nächte, in denen ich aufwache und kalte Windstöße vorbeiziehen. Ich weiß, dass ich diese Erfahrung mit allen teile, die an schweren Krankheiten leiden. Ebenso weiß ich, wie abhängig ich von den Menschen in meiner Umgebung bin. Familie, Freunde. Etwas anderes zu behaupten, wäre Heuchelei.

X saß auf der Bettkante und ich meinte, in ihren Augen sehen zu können, dass sie genügend Kraft hat, um diesen Kampf durchzustehen. Auch sie war nicht allein. Ein Angehöriger saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett. Am Ende werden wir natürlich alle den Tod finden. Darum gilt es, sich der Worte des Schriftstellers P. O. Enquist zu entsinnen: „Eines Tages werden wir sterben. Aber an allen anderen Tagen werden wir leben.“

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Zur Person

Henning Mankell, der Erfinder des Kommissars Wallander, ist am 5. Oktober an Lungenkrebs gestorben. In seinem letzten Buch „Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein“ (Zsolnay Verlag) setzte er sich mit seiner schweren Erkrankung auseinander. Die Diagnose Krebs hat Mankell an einen alten Albtraum erinnert: im Treibsand zu versinken, der einen verschlingt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2015)

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