Liebe, Lügen und Trüffel mit Gift

Eine Leidenschaft, die an Wahnsinn grenzt, treibt die Romanfiguren des Spaniers Javier Sebasti´an an.
Eine Leidenschaft, die an Wahnsinn grenzt, treibt die Romanfiguren des Spaniers Javier Sebasti´an an.Privat
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Javier Sebastián ist ein faszinierend verrückter Roman über politische Morde in Guinea, Ehebruch, Leidenschaft und Vergangenheitsbewältigung in Familien gelungen.

Fátima Moreo sitzt im Auto. Sie wartet vor dem Schultor auf ihre Tochter Eva, als plötzlich ein wütender alter Mann eine Boule-Kugel durch ihre Windschutzscheibe schießt. Sie packt ihre Tochter, die gerade aus der Schule kommt, und flieht – verfolgt von einem anderen alten Mann mit verbundenen Händen.

So beginnt dieser verrückte und immer wieder überraschende Intrigen-Roman des Spaniers Javier Sebastián. Die Eingangsszene katapultiert den Leser gleich mitten in die Zeitreise der Journalistin Fátima Moreo, die die düstere Vergangenheit ihrer Eltern aufdeckt: eines ehemaligen hochrangigen Generals, der eines Tages tot am Strand aufgefunden wird, und seiner fürsorglichen, häuslichen Ehefrau. Schritt für Schritt erfährt Fátima immer mehr Details über die Beteiligung der beiden an politischen Morden während der 1960er-Jahre im postkolonialen afrikanischen Staat Guinea.

Unangenehme Wahrheiten.
Fátimas Zeitreise ist ein wirrer Zick-Zack-Kurs aus Rückblenden und Gegenwart, in der die Frau versucht, mit dem neuen Bild ihrer Eltern zurechtzukommen: Die Reporterin tut sich schwer damit, dass hinter der sanften Mutter Carmen – die neben der Trüffelsuche auf ihrer Finca keine Interessen zu haben schien – eine leidenschaftliche Ehebrecherin steckt: Carmen verschwand während Fátimas Kindheit wochenlang in Südfrankreich. Nicht um Pilze zu verkaufen, wie sie vorgab, sondern um ihren geheimnisvollen Liebhaber Ramón Salinas zu treffen, den sie als Pseudo-Ehefrau nach Guinea begleitete. Dort verschenkte das falsche Ehepaar Trüffel an Oppositionelle, die Pilze hatte Salinas zuvor mit dem tödlichen Gift Thallium präpariert. Fátimas Vater wusste offenbar mehr von der Thallium-Sache, als die Tochter zu akzeptieren bereit ist.

Sebastián vermischt kunstvoll historische Fakten und Fiktion. Wobei das Chaos in Guinea und die Verbrechen des französischen und spanischen Militärs im afrikanischen Staat – der Roman beruht auf wahren Begebenheiten – nur eine rudimentäre Hintergrundkulisse darstellen. Viel wird angedeutet, kaum etwas erklärt. Denn das Geschehen in Guinea wird allein aus der Perspektive der handelnden Figuren beschrieben. Bei ihnen liegt auch der Fokus des Autors – bei ihren Charakteren und ihrer komplizierten Psychologie: Da ist die treue Tochter Fátima etwa, und ihr Kampf zwischen Eltern- und Wahrheitsliebe. Sie muss sich immer wieder zwingen, weiter in der Vergangenheit zu graben. Oder die junge, etwas naive Carmen, die so weit geht, weil sie einfach das große Abenteuer erleben will. Dann der spartanische General, der von Gier und Macht angetrieben wird. Und freilich der skrupellose Liebhaber-Mörder Salinas.

Sebastiáns facettenreiche Persönlichkeiten erobern den Leser: Denn sie sind unschlüssig, launisch, komplex. Die Helden und Bösewichte dieses Romans widersetzen sich jeglicher Kategorisierung: Keine der Figuren, nicht einmal Salinas, wirkt so richtig grausam, weil die Mörder zugleich sehr einsam und unglücklich sind. Dieser schizophrene Mix macht die Charaktere des Buches so beängstigend menschlich. Beeindruckend ist die Szene, in der Fátima mitten in der Nacht Carmen zur Rede stellt. Das subtile Machtspiel der Mutter dominiert den Dialog. Beinhart und zugleich sanft ist Carmen, als sie der Tochter gekränkt zu verstehen gibt, dass allein die Tatsache, dass ihr („in meinem Alter“) dieses Gespräch abverlangt wird, eine Ungeheuerlichkeit darstellt. Fátima muss all ihren Mut als Tochter zusammennehmen, um bei ihrem Vorhaben – der Wahrheitsfindung – zu bleiben.

Der Leser gerät von Anfang an in den Sog einer verrückten Welt, die starke Züge eines Almodóvar-Films hat: Gemeinsam haben alle Romanpersönlichkeiten eine Leidenschaftlichkeit, die an Wahnsinn grenzt. Dieser Wahnsinn treibt sie zu Mord, zur Liebe oder familiärer Geschichtsforschung an, und er prägt die Grundstimmung des Romans. Knappe Sprache, die fast nur aus Dialogen besteht, verstärkt den Effekt – mitunter sind einzelne Situationen sogar so überzogen tragisch, dass sie komisch wirken.

Neu Erschienen

Javier Sebastián
„Thallium“
übersetzt von
Ursula Bachhausen und Anja Lutter,
Verlag Klaus Wagenbach,
208 Seiten,
20,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2015)

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