Es war einmal Annemie...

Weg aus Armut und Abhängigkeit: Jürgen-Thomas Ernst hat ein modernes Märchen verfasst.
Weg aus Armut und Abhängigkeit: Jürgen-Thomas Ernst hat ein modernes Märchen verfasst.(c) Reuters/David Mdzinarishvili
  • Drucken

Jürgen-Thomas Ernst hat einen Entwicklungsroman über eine junge Frau geschrieben, die vor hundert Jahren versucht, aufrecht durch ihr schweres Leben zu gehen. Märchenhaft!

Vor hundert Jahren und einem Sommer – das wäre also 1913 oder 1914 – wird ein Mädchen geboren, Annemie. Sie ist die uneheliche Tochter einer jungen Frau, die in einer Tuchfabrik arbeitet. Das gleichnamige Buch von Jürgen-Thomas Ernst zeichnet den erstaunlichen Lebensweg von Annemie, ja Annemie, nicht Annemarie, nach.

Ernst, mehrfach prämierter Autor historischer Romane, hat also einen weiteren solchen geschrieben. Oder nicht? Historische Romane zeichnen sich dadurch aus, dass sie Geschichten vor dem Hintergrund wichtiger historischer Ereignisse schildern. 1914 begann der Erste Weltkrieg. Der wird nicht erwähnt. Dafür ein anderer großer Krieg, viel später dann.

Die Handlung entfaltet sich an keinem genau definierten Schauplatz. Annemie wächst im Kirschendorf auf. Aber wo ist dieses? In einer gebirgigen, mindestens hügeligen Region – bloß in welcher? Sind es die Alpen? Die Vegetation lässt diesen Schluss zu, immerhin ist im Verlauf des Buches etwa vom Alpenlattich die Rede. Kirschendorf, das erinnert an Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker „Die Brüder Löwenherz“, in dem die beiden Helden, Krümel und sein Bruder Jonathan, im Kirschtal wohnen. Und siehe da: Annemies bester Freund aus Kindertagen heißt Jonathan. Die Parallelen sind wohl nicht zufällig. So wie Astrid Lindgrens Buch ist auch „Vor hundert Jahren und einem Sommer“ eine Art Märchen. Jedenfalls bezeichnet es der Autor in seiner Widmung als solches.


Besondere Fähigkeiten. Aber auch das trifft es nur bedingt: Die Geschichte kommt ohne nennenswerte Magie aus, wenn man einmal davon absieht, dass Annemie die besondere Fähigkeit entwickelt, über weite Entfernungen wahrzunehmen, wenn ein Baby auf die Welt kommt.

Die ersten Kinderschreie, unhörbar für alle anderen im Haus, dringen durch Landschaften und Wände an ihr Ohr und Annemie macht sich auf, das Baby zu begrüßen und den Eltern zu gratulieren. Bald schon heißt es, sie sei eine Hexe, andere meinen, ihr nachgeburtliches Erscheinen bringe Glück. Diese Besuche bei den Wöchnerinnen gehören zu den lichten Momenten ihres sonst eher traurigen Kinderalltags.


Im Heim abgegeben. Mit vier Jahren wird sie von der Mutter in ein Heim gegeben, weil diese selbst wieder arbeiten muss, um sich über Wasser zu halten. Anders als bei Jane Eyre, der Hauptfigur in Charlotte Brontës gleichnamigem Klassiker, oder den tragischen Helden in Charles Dickens Büchern ist dieses Waisenhaus aber keine reine Kinderverwahrungsstätte mit grausamem Personal.

Im Gegenteil: Die Zieheltern bemühen sich um ihre Schützlinge, geben ihnen Liebe und Geborgenheit, soweit sie es vermögen. Auch um den kleinen Jonathan kümmert sich das Paar – einen schwierigen Jungen, der ständig seine eigenen Grenzen ausloten will und sich dabei auch schadet. Die beiden wachsen heran, ihre Wege trennen sich – führen auf verschlungenen Pfaden wieder zueinander. Sie sind wieder im Kirschendorf, errichten ein Glashaus inmitten der idyllischen Landschaft, um im Winter Kirschen zu ernten.

Nicht nur die ausufernde Schilderung der Natur, auch Stimmung und Verfasstheit der Protagonisten und nicht zuletzt die Sprache erinnern an Adalbert Stifters „Nachsommer“, was, siehe den Titel des Buches, wohl auch erwünscht ist. Selten nur gestatten sich die Menschen in diesem Werk Gefühlsaufwallungen. Die inneren Stürme entsprechen den äußeren. Es regnet viel. Die Geschichte ist in scheinbar naivem Gestus geschrieben, als wäre der Autor selbst überrascht von den jeweiligen Wendungen der Handlung.

Man könnte einwenden, dass Stifter im 21. Jahrhundert anders geschrieben hätte als im späten 19. Man könnte fragen, welches Genre Ernsts Werk nun wirklich darstellt: historischer Roman oder magischer Realismus oder doch Märchen?

Egal. Es ist schön.

Neu Erschienen

Jürgen-Thomas Ernst
„Vor hundert Jahren und einem Sommer“
Braumüller Verlag
480 Seiten
23,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.