"Ich habe die Welt von Pasolini gesucht"

Josef Winkler erinnert sich an seine Erfahrungen in Rom,
spricht über Malerei, Museen und unbeabsichtigte Provokation.

Auf der Flucht vor den Schockwellen, die sein erster Roman "Menschenkind" in seiner Heimat Kärnten auslösen würde, kam Josef Winkler 1979 erstmals nach Rom: "Ich bin vor der Presse und meinen damals noch lebenden Eltern davongelaufen", erzählt der Schriftsteller, der immer wieder für Provokationen sorgt, die er aber, wie er betont, keineswegs beabsichtigt: "Ich bin bürgerlicher geworden. Man schreibt nicht, um zu schockieren. Man schreibt, was in den Gliedmaßen ist und heraus muss." Winkler spricht auch über seine Leidenschaft für Indien, warum man Yoga nicht "machen", sondern nur "leben" kann, und er erklärt, warum er sich Peter Handke gegenüber als "Hascherl" fühlt. Stolz ist Winkler aber darauf, dass er wie Handke oder Thomas Bernhard seine eigene Sprache gefunden hat: "Das hoffe ich jedenfalls. Wenn man ein Buch aufschlägt und liest, erkennt man den Winkler, ohne auf dem Buchdeckel nachschauen zu müssen."

Sie haben zwei Bücher über Rom geschrieben, "Natura morta" und "Friedhof der bitteren Orangen". Können Sie sich an Ihren ersten Eindruck von der Ewigen Stadt erinnern?

Als ich das erste Mal in Rom war, hatte ich gerade meinen ersten Roman veröffentlicht. Das war 1979. Ich habe gewusst, dass ich einen Riesenwirbel angerichtet habe, weil ich in "Menschenkind" mit großer Zärtlichkeit, aber auch Heftigkeit, diese Geschichte über mein Heimatdorf und mein Elternhaus erzählt habe. Meine Eltern haben damals noch gelebt. Ich bin aber auch vor der Presse davongelaufen. Ich war auf der Suche nach einem Stoff, und mir war instinktiv klar, dass ich ihn nicht in London oder Paris finden würde, sondern in Rom. Ich wollte die katholische Kirche, die ich als Ministrant im Kleinen kannte, im Großen erfahren. Man kann nur über das schreiben, was man wirklich gut kennt.

Hassen Sie die katholische Kirche?

Ich hasse die katholische Kirche so sehr, dass ich, wie ich einmal schrieb, am liebsten mit einer Kirchturmspitze auf das Herz Jesu zulaufen würde. Aber das ist auch eine literarische Koketterie. Mein Thema ist die Kindheit, das bäuerliche Dorf, die Enge auf dem Land. Was wäre aus mir geworden ohne die katholische Kirche?

Die katholische Kirche gibt vielen Menschen Geborgenheit.

Das kann ich schwer beurteilen. Ich habe eher Angstzustände bei solchen Gedanken. Aber ich gehe öfter in Kirchen, ich bin auch im Gottesdienst. Aber wenn der Pfarrer mit seiner Predigt in dieser Schmusesprache beginnt, da muss ich sofort abhauen.

Sie sind also in Rom angekommen und haben diese kraftvollen Bilder von einer vitalen, aber auch fürchterlichen Stadt gefunden die in "Natura morta" nachzulesen sind.

Gefunden ist gut. Ich bin über zwei Monate im Hochsommer auf diesem Markt auf der Piazza Vittorio Emanuele gestanden, den es nicht mehr gibt, weil er so schmuddelig war, dass er aus hygienischen Gründen geschlossen wurde. Ich habe jeden Tag alles aufgeschrieben, was ich gesehen habe, keine Notizen, genau ausformuliert. Dann hatte ich diese Riesenmenge Material. Ich war verzweifelt. Ich habe dann alles noch einmal herausgeschrieben und bearbeitet, die Bilder verbunden, das Fleisch zum Fleisch getan und den Fisch zum Fisch. Das waren lauter Schnipsel.

Was haben Sie nach Ihrer Ankunft in Rom als Erstes gesehen?

Ich bin mit Füllfeder und Notizbuch bewaffnet auf dem Bahnhof angekommen. In der einen Hand trug ich eine 25 Kilogramm schwere IBM-Schreibmaschine, in der anderen einen Koffer mit meinen Fetzen. Der Autoverkehr und der Smog waren entsetzlich im Rom der 1970er-Jahre. Ich habe die ersten Wochen im Österreichischen Kulturinstitut gewohnt. Ich bin herumgewandert, mit der Straßenbahn gefahren und habe geschrieben. Mich interessiert etwas nur dann, wenn ich es aufschreibe. Ich muss es festhalten, dann überwältigt es mich nicht, sondern ich überwältige die Dinge mit Sprache. Ich habe zum Beispiel eine Razzia gesehen, vermutlich gegen die Mafia, ein Polizeiauto ist gegen eine Wand geknallt.

Wie im Film. Mögen Sie Filme?

Sehr, aber das meiste ist mir zu realistisch. Eins zu eins die Wirklichkeit abzufilmen oder abzumalen, das interessiert mich nicht.

"Natura morta" ist Malerei. Malen Sie selbst?

Nein, ich male mit der Sprache. Meine Bücher sind mittlerweile in 16 Sprachen übersetzt worden, und wenn wieder eine fremdsprachige Ausgabe erscheint, werde ich meistens eingeladen. Dann gehe ich als Erstes ins beste Museum der jeweiligen Stadt. Mein Lieblingsmuseum ist der Prado in Madrid. Im Louvre ist mir zu viel Betrieb. Ich kaufe Postkarten. In Italien haben mich diese Stillleben besonders berührt, daher das Buch "Natura morta". Diese Gemälde großer Maler, die zum Beispiel Pfirsiche so malen können, dass sie einem förmlich aus dem Korb entgegenspringen. Ich war in Villach in der Handelsschule, und wir hatten einen Lehrer in Betriebskunde, der Maler war. Er hatte eine riesige Bibliothek. Er hat mich mit den Bildern bekannt gemacht, von der Höhlenmalerei bis zu Francis Bacon. Er mochte mich, er hat gesehen, dass ich mich für Kunst interessiere.

Ihre Bücher wirken manchmal schockierend. Beabsichtigen Sie die Provokation? Gefällt es Ihnen, wenn die Leute sagen: Der Winkler, der will uns schon wieder ärgern mit seiner Drastik?

Daran denkt man nicht, wenn man schreibt. Es ist in den Gliedmaßen, es muss heraus und es kommt auch heraus.

Was war noch wichtig für Sie in Rom?

Die Bahnhofsgegend, ich habe die Welt von Pasolini gesucht. Die Piazza dei Cinquecento mit den Transvestiten, den Strichjungen, den Arabern. In "Friedhof der bitteren Orangen" habe ich das ausführlich beschrieben. Ich habe ein bisschen Pasolini nachgespielt.

Homosexualität spielt in Ihren Büchern eine Rolle.

Ja. Das war eine Phase, aber das interessiert mich nicht mehr. Ich bin verheiratet, habe zwei fast erwachsene Kinder. Mich wundert das manchmal, wenn ich Rezensionen meiner Werke oder Zusammenfassungen lese, da ist auch immer so viel von Homosexualität die Rede. Tatsächlich geht es darum in nicht mehr als 20 oder 25 Seiten insgesamt. Ich kann über Sexualität nicht schreiben. Ich könnte keine Liebesgeschichte schreiben. Ich habe keine Sprache dafür, ich komme da nicht heran. Ich würde in den fürchterlichsten Kitsch abgleiten.

Es gibt den netten Familienvater und den literarischen Extremisten. Die zwei kommen sich nicht in die Quere?

Früher ja. Ich bin bürgerlicher geworden. Ich hatte die Neigung zum Extremen und wollte die bürgerliche Gesellschaft herausfordern, schockieren. Aber wirklich wichtig ist mir, dass meine eigene Handschrift erkennbar ist.

Maja Haderlap, Peter Handke und Sie haben eine ähnliche Herkunft, ähnliche Themen. Bereitet Ihnen das Probleme?

Gegen Peter Handke bin ich ein Hascherl. Vor ihm habe ich unermesslichen Respekt. Ich halte ihn für den größten europäischen Schriftsteller. Wir treffen uns manchmal, aber wir stehen einander nicht im Weg, weil wir Dinge grundlegend verschieden aufarbeiten. Wichtig ist für mich, und einige behaupten, dass mir das gelungen ist, dass man, wenn man eines meiner Bücher aufschlägt, nicht auf den Buchdeckel schauen muss. Man erkennt: Das ist der Josef Winkler. So ist es auch bei Handke oder bei Bernhard.

Jetzt ist Rom Ihnen schon einige Jahre entschwunden. Sie haben viel über Indien geschrieben, über Varanasi, diese Stadt, die ähnlich heilig und abgründig ist wie Rom. Machen Sie Yoga?

Yoga kann man nicht machen. Das ist ein Zustand oder eine Lebensform. Ich schaue Fischern zu, die am Seeufer sitzen, zwar nicht im Schneidersitz, aber stundenlang ganz ruhig. Das ist auch eine Art Yoga. Ich weiß nicht, wie es mir damit gehen würde, in so einer Gruppe im Kreis zu sitzen, diese Menschen, die Yoga praktizieren, sind teilweise sehr seltsam und komisch, die spinnen noch mehr als ich. Ich weiß nicht, ob ich das noch suchen muss.

Ist Ihnen Hinduismus lieber als Katholizismus?

Ich kann das nicht beurteilen. Für mich sind diese Rituale irgendwie auch ein zauberhafter Firlefanz. Ich schaue sie gern an, es geht sehr musikalisch zu. Ich bin mit Ritualen aufgewachsen, auch der Hinduismus lebt von Ritualen. Aber du kannst noch so viel darüber lesen, das ist immer etwas anderes als das, was du von Kindheit an in die Knochen hineingedrückt bekommen hast. Das ist bei mir die katholische Kirche.

Kehren wir zum Schluss kurz noch einmal nach Rom zurück. Gab es Momente, in denen Sie dort glücklich waren?

Das Österreichische Kulturinstitut befindet sich in der Viale Bruno Buozzi, ich habe noch heute den Geruch dieser Zelle mit Tisch und Bett in der Nase. Das Gebäude ist in einer bürgerlichen Gegend, ich bin dort viel herumgewandert. Es gab eine wunderbare Konditorei, die Pasticceria Euclide. Später musste ich eine Wohnung außerhalb suchen, das war mühsam. Ich bin auch sehr oft im Park der Villa Borghese gewesen, ich habe mich hingesetzt und auf die Stadt hinuntergeschaut. Rom ist etwas Besonderes. Von allen Städten, in denen ich war, habe ich es dort am längsten ausgehalten, länger als in Berlin und in Wien. Insgesamt war ich zwei Monate in Rom. Ich bin durch 50 oder 60 Kirchen gegangen. Da tauchen Gefühle, Erinnerungen auf, und dann beginnt man automatisch zu schreiben.

"Natura morta" ist nicht nur eine Bilder-, sondern auch eine Fressorgie. Was essen Sie denn selbst gern? Fisch?

Wenn ich könnte, würde ich nur Fisch essen, so wenig wie möglich Fleisch. Aber wir sind ja in der Provinz und aus der Umgebung derartig gut mit wertvollen und eigenen Lebensmitteln versorgt, dass man doch auch Fleisch isst. In Indien esse ich nie Fleisch, ich habe auch nicht das Bedürfnis danach.

Tipp

Rom-Impressionen. Josef Winklers Eindrücke aus Italien versammeln "Natura morta" und "Friedhof der bitteren Orangen" (beide Suhrkamp).

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