In Wien beginnt der Orient

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DOUNIAMAG-FRANCE-LITERATURE-ENARD-GONCOURT(c) APA/AFP/THOMAS SAMSON (THOMAS SAMSON)
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Der preisgekrönte französische Roman „Boussole“ erzählt von einem Wiener Musikwissenschaftler – und von der Zeit, als Europäer noch vom Nahen Osten träumten.

Es wird dunkel vor den Fenstern in der Porzellangasse, aber der österreichische Musikwissenschaftler Franz Ritter kann nicht schlafen. Er hat beim Arzt eine vernichtende Diagnose erhalten, er ist todkrank. Es wird eine lange, schlaflose Nacht für ihn werden – und für die Leser eine lange Reise durch einen inhaltlich faszinierenden, stilistisch meisterhaften Roman.

„Boussole“, der vor wenigen Wochen den bedeutendsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, erhalten hat, folgt den nächtlichen Erinnerungen eines Zeit seines Lebens vom Orient begeisterten, ja besessenen Mannes. Aber in diese persönlichen Erinnerungen an Reisen nach Istanbul, Teheran, Damaskus und seine unglückliche Liebe zur ebenfalls passionierten Orientalistin Sarah verpackt der französische Romancier Mathias Énard eine ganze Geschichte des westlichen Orientalismus, der europäischen Orientbegeisterung des 19. und 20. Jahrhunderts. Das lässt diesen so kunstvollen wie gelehrten Roman, dessen Titel „Kompass“ bedeutet, wie einen positiven Kontrapunkt zu den Kriegs-, Terrorismus- und Flüchtlingsnachrichten erscheinen, die derzeit das Bild vom Nahen Osten prägen, sowie zur immer negativeren Konnotation des Islam. „Boussole“ wirkt aber auch – nicht weniger aktuell – wie eine musikalische Meditation über die Rolle der Fremde und der Fremden für das eigene Selbstbild, ein Plädoyer für eine Welt der Mischungen, der Diaspora.

Morgenland und islamische Welt

Der US-amerikanische Literaturtheoretiker Edward Said prägte den Begriff des Orientalismus mit seinem gleichnamigen, 1978 erschienenen Buch. Es war eine harte Abrechnung mit der westlichen Orientalistik und dem kolonialistischen Blick auf den Orient. Das Bild von einem dem Abendland entgegengesetzten, geheimnisvollen, irrationalen und sinnlichen Morgenland wollte Said als Konstrukt entlarven. Auch wenn ihm oft vorgeworfen wurde, seine Darstellung westlicher Orientvorstellungen sei ein Zerrbild, hat sein Werk stark nachgewirkt – und das Bewusstsein dafür geschärft, wie sehr das Orientbild als Bild vom „Anderen“ (auch) Fantasiebild ist, Spiegel der eigenen Bedürfnisse.

Dass es sich auch um romantische Fantasien handelt, erscheint freilich in „Boussole“ nicht nur als negativ. Sein Roman spielt im Wien der Gegenwart, spannt seine Flügel aber in die Vergangenheit und erzählt von jenen Menschen, vor allem Künstlern, die in den Orient ihre Sehnsüchte projizierten: etwa vom österreichischen Pionier der Orientalistik, Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (eine Szene spielt auf seinem steirischen Schloss Hainfeld), von Rückert, Mozart, Beethoven, Goethe und Liszt, von Stendhal, Balzac und Kafka oder vom Lemberger Leopold Weiss, der sich nach seiner Konversion zum Islam Muhammad Asad nannte und mit seiner Autobiografie „Der Weg nach Mekka“ viele Deutschsprachige für den Islam begeisterte. Und er erzählt von heutigen Grenzgängern zwischen den Welten, die den „Wind des Anderen“ suchen, wie es einmal im Roman heißt.

Die „Porta Orientis für Europa“

Obwohl Énard seinen leidenden, melancholischen Helden Franz Ritter in den neunten Wiener Gemeindebezirk platziert hat, müssen österreichische Leser noch auf eine deutsche Übersetzung warten. Warum gerade Wien?, fragte das französische Magazin „Le Temps“ den Schriftsteller. Hugo von Hofmannsthal habe ihn dazu inspiriert, antwortete dieser, dessen Bezeichnung Wiens als Tor zum Orient.

Worauf bezieht er sich da? Offenbar auf den „Wiener Brief“ von 1922, in dem Hofmannsthal New Yorker Lesern das Besondere der Wiener Literatur zu erklären versuchte. Wien, schrieb er da, sei die „alte Porta Orientis für Europa“. Mathias Énard sieht im alten Wien eine Stadt, die sich angesichts des türkischen „Anderen“ selbst träume, und sagt weiter: „Indem ich einen Österreicher wähle, wollte ich, dass er Europa in seiner ganzen Komplexität verkörpert.“

Franz Ritter, muss man annehmen, wird Wien nicht mehr verlassen. Seine ferne Geliebte Sarah aber will kommen: „Europa ist nicht mehr mein Kontinent, deshalb kann ich wieder auf ihn zurückkehren.“ Und in die Stadt Wien – der schon lange kein so würdiges Denkmal gesetzt wurde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2015)

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