Russland heute: „Unsere Werte wurden zerbombt!“

(c) Eduard Steiner
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Frei! Was nun? Der Schriftsteller Wiktor Jerofejew beschreibt die Stimmung in seiner Heimat. Vor Kurzem ist sein neues Buch „Russische Apokalypse“ auf Deutsch erschienen.

Der Russe ist wie jeder Mensch – nicht schlecht, aber doch anders, als es der übergroße Glauben an den Humanismus gelehrt hat, meint der russische Starautor Wiktor Jerofejew. Vor Kurzem ist sein neues Buch „Russische Apokalypse“ auf Deutsch erschienen. Worin sie besteht? „In einem Bombardement der Werte“, sagt er im Interview und empfiehlt einen Blick aufs Abstellgleis.

Die Presse: Sie als großer Russland-Kritiker schreiben, dass Russland ein normales Land sei. Der Westen sieht das doch etwas anders. Ist er Russland gegenüber ungerecht?

Wiktor Jerofejew: Oh, Kritik am Westen habe ich genug parat. Nach der Wende wurden viele Fehler gegenüber Russland begangen. Gorbatschows großzügige Aktionen wurden vom Westen nicht entsprechend honoriert. Und die liberalen Reformer wurden strukturell nicht ausreichend unterstützt. Der Westen hat ein pathologisches Misstrauen gegenüber Russland.

War das etwa nicht gerechtfertigt?

Jerofejew: Unser europäisches Potenzial wurde nicht erkannt. Banditen und Prostituierte gelangten in den Westen, aber die, die den Westen verstehen, seine Werte übernehmen wollten, scheiterten an der Visumbarriere. Das nährt den Nationalismus. Man holte aus Russland raus, was man brauchte, und war nicht bereit, alles zu geben. Wenn der Westen schreit, dass Russland nicht den europäischen Weg geht, so kann er sich großteils selbst beschimpfen.

Das ändert nichts am autoritären Putin-Regime. Oder denken Sie, dass das westliche Urteil auch darüber nicht adäquat ist?

Jerofejew: Man muss breiter denken. Der Hochmut der Liberalen hat die Demokratie diskreditiert. Wenn die Geschichte die liberale Reform nicht aushält, kommt in Russland das konservative Bestreben, das Land gefrieren zu lassen, damit es nicht zerfällt. Da ist Putin nicht anders als die Zaren Nikolaj I. oder Alexander III. Am Anfang war daran nichts Schreckliches. Dann aber tendierte Russland zur Konfrontation: Auf die Farbenrevolutionen wurde beleidigt reagiert. Aber auch der Westen hätte delikater reagieren können, als mit großer Freude Russland auf die Zehen zu steigen. Die Anerkennung des Kosovo war ein großer Fehler, denn sie bot Russland die Möglichkeit, die Frage rund um Georgien und in Zukunft vielleicht auch die ukrainische Frage aufzugreifen. Wegen der Konfrontation steigt die stark nationalistische Bewegung.

Nimmt dadurch die Krise noch weiter zu?

Jerofejew: Natürlich. In Zeiten der Schwäche und Angst vereinigt man sich rund um einfache Losungen und vulgäre Positionen. Und diese Erscheinungen sind unkalkulierbar. Die Staatsführung will keinen extremen Nationalismus, aber die Kirche beginnt damit zu spielen und liefert dafür eine ideologische Anreicherung. Die Stärkung des Nationalismus bereitet mir Kummer, eine Revolution ist jedoch nicht zu erwarten.

Aber ein gesteigertes Bedürfnis nach mehr Information. Ist es bereits wahrzunehmen?

Jerofejew: Ja. Anfangs hat die Staatsmacht die Probleme aus Angst vor Machtverlust vertuscht. Jetzt tauchen Informationszentren auf, die etwas chaotisch Widersprüchliches über den Grad der Krise mitteilen.

Wäre die Krise also auch eine Chance, dass der intellektuelle Diskurs wieder zunimmt?

Jerofejew:Die Intellektuellen kann man ebenso kritisieren wie den Westen. Seit dem 19. Jahrhundert kämpfte die Intelligenzija als Sekte, als Community für die Befreiung und das Glück des Volkes. Aber sie war nicht vorbereitet, nach dem Ende des Kommunismus in der Freiheit, die sie nie gekannt hatte, zu leben. Daher ist die Community zerfallen, und ich sehe keine Persönlichkeiten, die sie real wiedervereinigen könnten. Allerdings weiß ich aus meinen TV-Programmen, welche riesigen intellektuellen Ressourcen wir haben. Schriftsteller, Historiker, Musiker, Philosophen, religiöse Denker. Sie sind einfach nicht aktiviert und werden zur Arbeit im Land nicht hinzugezogen. Sie stehen abseits, wie ein Zug auf dem Abstellgleis.

Erinnern Sie in Ihrem Buch „Russische Apokalypse“ an dieses Potenzial? Da fahren Dutzende berühmter russischer Figuren auf.

Jerofejew: Das stimmt. Das Buch ist mit großem Leiden und Schmerz für das Land geschrieben. Das Land hat eine riesige Kultur, die von der ganzen Welt anerkannt wird. Nehmen Sie den Komponisten Schnittke, oder Ilja Kabakow. Im Übrigen möchte ich zeigen, dass gerade Russland durch Ironie und Humor aufrechterhalten wird.

Ich sehe mindestens ebenso viel Zynismus. Manche meinen, dass auch Sie mit Ihrem beliebten Sarkasmus die Schwelle zum Zynismus überschreiten. Wo liegt für Sie die Grenze?

Jerofejew: Ich bin überhaupt kein zynischer Mensch. Im Gegenteil. Ich möchte vielmehr unsere empfindlichen Stellen verstehen. Ein Problem war unser allzu großer Glaube an den Humanismus. Er half zwar den Intellektuellen, Russland zu befreien. Dann aber stellte sich heraus, dass der Mensch ein völlig anderer ist, nämlich schwach, treulos, betrügerisch. Ich will zeigen, dass man eine andere Beziehung zum Menschen suchen muss, eine ausgewogenere. Und zwar nicht, weil er schlecht wäre, sondern weil er anders ist und weil seine Probleme oft in ihm selbst liegen und er keine Kraft oder keinen Wunsch hat, sie zu lösen. Bis heute lebt ja der Mythos bei uns fort, dass der Mensch voll des Guten ist. Und das Dorf auch, und die Kleinstadt auch. Alle sind gut, nur die Krise ist schlecht und die Machthaber. Wir sind ein Land von lauter Mythen.

Also ist die Entmythologisierung das Hauptziel der schriftstellerischen Arbeit?

Jerofejew: Am Verständnis, wer wir denn eigentlich bei uns im Lande sind, führt kein Weg vorbei. Dazu braucht man die Mythen nicht zu zerstören. Man muss nur zeigen, dass sie da sind, dann werden sie sich von selbst auflösen. Bislang sehen wir die Realität hinter ihnen nicht. Wir sind ein großes archaisches Dorf. Dort denkt man noch in jedem Haus auf seine Art und lebt mit unterschiedlichen Göttern. Viele erzählen Märchen, nicht nur Putin. Ironie, Sarkasmus können meines Erachtens die Mythen zerstören. So gesehen, ist Kultur gefährlich.

Weil sie Dinge beim Namen nennt?

Jerofejew: Ich will zeigen, dass wir eine Vertrauenskrise und eine moralische Krise haben, die beide beunruhigender sind als die Wirtschafts- oder die politische Krise. Zwei Mal in einem Jahrhundert haben wir alle Werte verloren: Zuerst mit der Roten Revolution, dann mit dem Fall der Sowjetunion. Denn selbst wenn die sowjetischen Werte schlecht waren, so spüren die Leute ihren Verlust. Die Menschen wissen nicht, was gut und was schlecht ist. Und neue Werte wurden nicht geschaffen. Das ist die russische Apokalypse – ein Bombardement der Werte. Nehmen Sie das zerbombte Dresden. So müssen Sie sich unsere zerbombten Werte vorstellen. Bis heute gehen die Leute um diese Ruinen herum. Eine schreckliche moralische Krise. Niemand hilft ihnen bei einer Neubildung von Werten: Nicht die Intellektuellen, nicht die Staatsführung, niemand.

Der Kreml setzt nun immerhin eine neue historische Kommission ein, damit die Geschichte nicht zum Schaden der russischen Interessen gefälscht wird, wie es heißt.

Jerofejew: Mal sehen, wie sie arbeitet. Kommissionen machen in Russland grundsätzlich immer hellhörig.

Ist Vergangenheitsbewältigung unabdingbar? Es gibt ja auch den Ansatz: Schwamm drüber und den Blick nach vorn gerichtet, hin zu einem Orientierungsziel in der Zukunft.

Jerofejew: Das ist eine sehr schwierige Frage. Die Sache in Russland ist ja, dass wir nicht nur mit dem 20. Jahrhundert nicht zurechtkommen, sondern auch mit der Vergangenheit davor. Wir fragen uns ja immer, wie sehr Zarismus und Autokratie organisch zur russischen Geschichte gehören und wie es kam, dass unsere Gesellschaft sich immer unter der Macht der Despoten und Diktaturen befand. Wenn wir die Vergangenheit nicht decodieren, werden wir ihr Sklave sein. Irgendwann müssen wir Klarheit hineinbringen, ansonsten gehen wir immer im Kreis, kommen nie zur Demokratie und wachsen mit unserer multikulturellen Gesellschaft nie zu einer Nation.

Ist die Multikulturalität ein Hindernis?

Jerofejew: In gewisser Hinsicht ja. Die Vielzahl der unterschiedlichen Zugänge zum Leben stört natürlich. Italiener und Finnen mögen verschieden sein, aber in elementaren Zugängen zu Würde, Freiheit, Erfolg sind sie gleich. Die Bevölkerung in Sibirien unterscheidet sich da von jener in Nord- oder in Südrussland fundamental; sie denken ganz unterschiedlich. In Sibirien sagt man, es sei nicht schön, nach Erfolg zu streben, und der Russe müsse ein wenig leiden, sich abquälen, das wäre ihm zuträglich.

In den letzten Jahren haben sich die Russen nicht sehr gequält, sondern gut gelebt.

Jerofejew: Wir durchlaufen eine sehr widersprüchliche Periode. Abgesehen von der Politik entwickelt sich unsere Gesellschaft nicht so schlecht. Wir sind nicht den ukrainischen Weg einer Revolution gegangen, na und? Stattdessen durchleben wir erstmals die Freiheit des Privatlebens. Jeder steht vor einer riesigen Anzahl von Fragen. Schickst du dein Kind in die französische Schule? Wirst du Buddhist oder Katholik? Sollst du Blumen setzen oder Rasen mähen wie in Österreich? Soll ich mit meiner Frau Tonic trinken oder Selbstgebrannten? Ein Mädchen kann Prostituierte werden oder Nonne. Sie kann ins Restaurant gehen oder klassische Musik zu Hause hören. Im Prinzip findet ein riesiger innerer Arbeitsprozess statt. Euch mögen diese Fragen naiv erscheinen, aber wir müssen das durchleben.

AUF EINEN BLICK

Wiktor Jerofejew wurde 1947 in Moskau geboren. Sein Vater war Dolmetscher Stalins. 1979 wurde er aus dem UdSSR-Schriftstellerverband ausgeschlossen. Seinen Durchbruch hatte er mit seinem Debütroman „Die Moskauer Schönheit“, der zur Zeit der Perestroika erschien und in 27 Sprachen übersetzt wurde. Heute gilt Jerofejew als einer der führenden Autoren Russlands. Zuletzt erschienen „Der gute Stalin“ und „Der Mond ist kein Kochtopf“. Jerofejew schreibt Gastkommentare in führenden westlichen Zeitungen.In Russland moderiert er die TV-Diskussionssendung „Apokryph“ über literarische und gesellschaftliche Themen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2009)

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