Menasse: „Raserei von schlechten Reformen“

PODIUMSDISKUSSION ´BIG DATA IN DER EU´: MENASSE
PODIUMSDISKUSSION ´BIG DATA IN DER EU´: MENASSE(c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
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Die Politik tue nicht zu wenig, meint Schriftsteller Robert Menasse, sie tue das Falsche. Denn sie fürchte sich vor dem wirklichen Souverän: den großen Konzernen.

Seit Jahren werden in Kommentaren zur Innenpolitik Stillstand und Reformverweigerung kritisiert. Was ist der Grund für die versteinerten Verhältnisse?

Robert Menasse: Ich sehe keine Versteinerung. Höchstens einen Steinschlag. Es kommt ja offensichtlich vieles ins Rutschen. Ich hätte innenpolitisch nichts gegen mehr Stillstand. Wir erleben doch seit einiger Zeit eine schleichende Verschlechterung in vielen Bereichen. Und Reformverweigerung kann man der Regierung nicht vorwerfen – sie macht ja Reformen. Das Problem ist: „Reform“ ist ein positiv besetzter Begriff, aber deswegen sind nicht alle Reformen automatisch positiv. Manches wäre besser und der „Stillstand“ glücklicher, wenn eine Reihe von „Reformen“ nicht gemacht worden wäre. Worunter wir innenpolitisch leiden, ist nicht der Stillstand, sondern die Raserei von schlechten Reformen um der Reform willen.

Sie sagen, manche Reformen wären besser nicht gemacht worden. Doch die meisten Reformen waren ja notwendig, weil das System, so wie es vorher war, sonst nicht mehr finanzierbar wäre.

Noch kein Ökonom hat schlüssig erklären können, warum am historisch höchsten Stand der gesellschaftlichen Produktion von Reichtum etwas nicht mehr finanzierbar sein soll, was 30 Jahre vorher, auf einem niedrigeren Stand der Produktivität selbstverständlich finanzierbar war. Es ist keine Frage der Finanzierbarkeit, sondern der Verteilung. Wir reden von Stillstand, obwohl es jetzt auch diese Steuerreform gab: Eine kleine Entlastung wurde mit einem so komplizierten und rigid kleinlichen System der Gegenfinanzierung erkauft, dass diese Lösung mittelfristig eher zu sozialer Unzufriedenheit und Ressentiment führen wird als zu Wählerdankbarkeit. Zugleich sehe ich viel zu wenig Engagement für eine gemeinsame europäische Fiskalpolitik. Die wäre höchst notwendig. Vieles ist ja nur deshalb nicht mehr finanzierbar, weil die Staaten der Union einander fiskalpolitisch niederkonkurrieren – oder sich an gar keine Regeln halten. Wenn wir über Innenpolitik diskutieren, müssen wir erst einmal klarmachen: Unter Innenpolitik müssten wir heute Europapolitik verstehen.

Nun kann eine österreichische Regierung in Brüssel wenig ausrichten.

Sie richtet wenig aus? Ich finde, sie richtet genug an. Der österreichische Außenminister unterstützt den britischen Premier dabei, mit immer mehr Ausnahmeregelungen die Gemeinschaft zu zerschlagen. Die österreichische Innenministerin legt in Brüssel ein Veto gegen eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik ein und beschwert sich dann zu Hause, dass sich „die EU“ nicht bewegt. Der österreichische Finanzminister fordert mehr Steuermoral von den Griechen, aber er tut nichts gegen die fehlende Steuermoral der Konzerne in Österreich. Die politisch Verantwortlichen fürchten sich nicht vor den Wählern, sie fürchten sich vor dem wirklichen Souverän, den Konzernen. Was die Konzerne aufgrund der europäischen Steuerkonkurrenz nicht zahlen, fehlt in jedem nationalen Budget, für Soziales, für Bildung, für Gesundheit, für Pensionen. Nein, es gibt keinen „Stillstand“, es gibt eine ganz dynamische politische Reformentwicklung, die das Leben der meisten verschlechtert, und die denen, denen es schlechter geht, ein Angebot macht: Wir wissen, dass ihr unzufrieden seid. Wir bieten euch einen Blitzableiter für eure Wut an: die, denen es noch schlechter geht, die Ärmsten, die Flüchtlinge und Ausländer! Tretet auf sie hin und wählt uns!

Sie sehen also Innenpolitik bloß als Ablenkungsspektakel?

Nein, die Regierung lenkt nicht ab, ich fürchte, sie weiß es nicht besser. Der Nationalismus wächst, und damit eine immer radikalere Konzentration auf nationale Scheinlösungen. Das ist die ganze Innenpolitik. Wohin ein immer trotzigerer Nationalismus führt, könnte man aus der Geschichte wissen.

Im Sinne Gramscis: Sind wir Zeitzeugen des Versuchs einer Abwehr eines im Sterben begriffenen Systems?

Ja. Jedem denkenden Gemüt ist klar, dass kein Nationalstaat irgendein relevantes Problem allein wird lösen können. Finanzströme, Warenverkehr, Migrationsbewegungen, ökologische Probleme, Internet und Datensicherheit, Arbeitsmärkte und so weiter, das alles kennt längst keine nationalen Grenzen mehr. Es wird supranational gelöst – oder gar nicht. Schrullige nationale Reformen, die alle gemäß der Universalmetapher „Türl mit Seitenteilen“ funktionieren, werden nur noch mehr giftiges Ressentiment produzieren. Weil die nationalen Lösungen nicht funktionieren, werden noch mehr Menschen nach noch radikaleren nationalen „Lösungen“ schreien. Und noch mehr dumme Politiker, in Panik um ihre nationalen Wählerstimmen, werden sich erbötig machen, für ein paar Tausend Stimmen 200 Jahre Aufklärung zu verraten, und sie werden alle scheitern. Ja, die Nationalstaaten werden sterben, und wie 1914 und wie 1939 sind sie noch einmal bereit, sich ihr Überleben mit der Misere und dem Elend der auseinanderdividierten Massen zu erkaufen. Stefan Zweig hat das 1913 beschrieben. Die Bildungsreform hat – zur Vermeidung von „Stillstand“ – Stefan Zweig aus dem Lehrplan gestrichen.

Sehen Sie einen Ausweg?

Ja. Wenn alles wieder einmal in Schutt und Trümmern liegt, dann werden alle sagen, dies soll nie wieder geschehen dürfen. Dann werden sie alles das beschließen, was jetzt nötig wäre, aber wegen des Zombie-Tanzes des Nationalismus heute nicht möglich ist. Und der jetzige Minister Kurz wird der neue Renner, und ich werde mich, wenn ich noch lebe, totlachen.

AKTION AUFBRUCH

„Die Presse“ hat – gemeinsam mit fünf Bundesländerzeitungen – am Samstag einen Appell für eine neue, mutige Politik formuliert. In der Samstagsausgabe sind 66 Personen des öffentlichen Lebens zu diesem Thema zu Wort gekommen, darunter der Schriftsteller und Essayist Robert Menasse. Er erklärt seine Haltung ausführlicher in diesem Interview.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2016)

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