"Man sieht in Istanbul nicht mehr Frauen mit Kopftuch als früher"

Der tuerkische Schriftsteller Orhan Pamuk liest am 18 02 2016 in Koeln auf der Lit Cologne dem Intern
Der tuerkische Schriftsteller Orhan Pamuk liest am 18 02 2016 in Koeln auf der Lit Cologne dem Internimago/Horst Galuschka
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Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk im Gespräch: über Migration in Istanbul und Europa, die säkulare Arroganz der Privilegierten und seinen neuen Roman.

Herr Pamuk, Ihr neuer Roman „Diese Fremdheit in mir“ erzählt vom Straßenverkäufer Mevlut, der als Bub von Anatolien nach Istanbul zieht und sein Leben lang arm bleibt. Eine Parabel auf die großen Wanderungsströme, die wir gegenwärtig erleben?

Orhan Pamuk: Ich wollte schon lange aus der Sicht der kleinen Leute über Istanbul schreiben, eine Art Mikrogeschichte der gewaltigen Veränderungen, die meine Heimatstadt in den vergangenen 50 Jahren mitgemacht hat. Um dem Elend des Dorflebens zu entrinnen, sind Millionen von Menschen aus Anatolien an den Bosporus gezogen, wo sie auf ursprünglich staatlichem Land oft über Nacht illegal ihre dürftigen Wohnstätten hochgezogen haben – die sogenannten Gecekondus. Wie erfahren die Zuwanderer die chaotische Komplexität der Großstadt? Diese Frage hat mich beschäftigt. Ich wollte das Alltagsleben Istanbuls mit den Augen eines Straßenverkäufers sehen, der Boza verkauft, ein leicht alkoholisches Hirsegetränk, und den ganzen Tag über und auch in der Nacht durch die Straßen der Stadt wandert.


Istanbul ist in kurzer Zeit zum modernen Großstadtmoloch geworden. Bedauern Sie, dass die Stadt Ihrer Kindheit verschwindet?

Natürlich schmerzt es mich zu sehen, wie Welle über Welle an Migranten die Stadt verändert. Es gibt Tage, da befällt mich ein fast metaphysischer Schwindel. Aber der homo politicus in mir befiehlt: Orhan, versuche den Wandel zu verstehen und als unvermeidlich zu akzeptieren! Die Stadt wandelt sich rasant. Und es ist erstaunlich, wie unbeholfen die türkischen Regierungen bisher darauf reagiert haben. Die Europäer tun es ihnen gerade gleich. Sie entwickeln keine einheitliche Flüchtlingspolitik, die ihren Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gerecht würde, sondern reden und reden und reden und verschlafen dabei alles!


Wollen Sie Chronist des Umbruchs sein?

Mein neuer Roman ist die epische Erzählung der Modernisierung Istanbuls, aber kein politisches Epos, sondern eines, das die Veränderung in den kleinsten Lebensbereichen beschreibt. Nehmen Sie die Hundemeuten. 400 Jahre lang wurden Istanbuls Straßen in der Nacht von Hunden beherrscht. Doch seit den letzten 20 Jahren eliminiert die Stadtverwaltung die Hunde immer mehr aus dem Stadtbild. Aber es könnte auch sein, dass Istanbul etwas dazugewinnt. Die Stadt war vor 60 Jahren nicht toleranter, im Gegenteil! Und es gab nicht einmal Demokratie.

Wird Istanbul durch die vielen, von traditionellen islamischen Glaubensvorstellungen geprägten Zuzügler religiös uniformer?

Istanbul war Hauptstadt des Osmanischen Reichs, das den Islam mit dem Schwert in die Welt hinaustrug. Es wäre eine falsche Vorstellung zu glauben, wir Istanbuler seien immer säkular gewesen, bis die Zuwanderer aus Anatolien kamen. Sicher, der Säkularismus des türkischen Staates schmilzt dahin. Vielleicht ist der politische Islam sogar sichtbarer geworden. Aber es ist nicht einmal so, dass man mehr Frauen mit Kopftuch sieht als früher. Nur weil eine Partei die Wahlen gewinnt, die die Religion für ihre Zwecke nutzt, heißt das nicht, dass das ganze Land sehr religiös wird. Das ist es auch gar nicht, weshalb ich Erdoğan und seine Regierung kritisiere.

Wofür kritisieren Sie diese dann?

Für Intoleranz und autoritäre Gesinnung. Die Europäer gehen zurzeit mit der türkischen Regierung sehr freundlich um, weil sie wollen, dass sie die Flüchtlinge abhält, und hilft, den IS wegzubomben. Die Europäer sollten noch ein Drittes erbitten: Respektiert die Menschenrechte! Aber reden wir über Mevlut, auch er hat Rechte!

Woran denken Sie da?

An das Recht, in Istanbul zu leben. Die Stadt gehört nicht nur einer privilegierten Oberschicht. Auf diese Leute und ihre religiösen Vorstellungen herabzuschauen, ist nicht korrekt. Ich sage nicht, dass mir solche Anwandlungen fremd sind. Aber dann ist da noch eine andere Stimme in mir, die mich ermahnt: Orhan, benimm dich nicht wie ein arroganter Schnösel, der sein Geld eine Generation früher gemacht hat!

Viele werden trotzdem fragen, was ein Intellektueller der gehobenen Mittelklasse von armen Schluckern wie Mevlut weiß.

Ich wollte eine Erzählung nach der Art von Dickens machen, aber ohne Melodramatik, natürlich stieß ich auf jede Menge Fragen: Wie haben sich Istanbuls Zuwanderer organisiert? Mit welchen bürokratischen Hindernissen haben sie zu kämpfen? Wie schützen sie sich vor staatlichen Repressalien? Und, und, und! Ich merkte, dass, wollte ich Istanbuls Straßenkultur einfangen, mich auf sie einlassen, dass ich genau nachforschen, Leute treffen und Beziehungen knüpfen musste. Die Kunst des Romans hat immer ein Problem damit gehabt, Leute aus den unteren Schichten authentisch darzustellen. Ein Teil von mir arbeitete als Soziologe und Chronist. Der andere Teil war davon in Anspruch genommen, Mevluts Charakter zu entwickeln, seine Eigenart, sein Menschsein.

Was für eine Art Mensch ist Mevlut, Ihr türkischer Jedermann?

Sein Optimismus ist naiv, ja, Mevlut besitzt sogar eine gewisse Unschuld von der Art, wie sie Stendhals Romanheld Julien Sorel, Voltaires Candide oder Calvinos Marcovaldo eigen ist. Mein Mevlut hat aber auch opportunistische Züge. Die Art, wie er Problemen aus dem Weg geht, erinnert mich an Hašeks braven Soldaten Schwejk. Er ist also eine ziemlich komplexe Persönlichkeit und hat im Übrigen nicht gerade wenig von Orhan Pamuk.

Wo erkennen Sie sich in ihm wieder?

In der Fremdheit, die er in sich trägt, und die auch ich von mir kenne. „Du bist so sonderbar, Orhan!“, haben in meiner Kindheit Freunde häufig zu mir gesagt. Diese Fremdheit hat mit unserer romantischen Vorstellungskraft zu tun.

Und doch bleibt er in vielem letzten Endes auch Ihnen fremd, ja, Sie hegen, wie Sie sagten, mitunter sogar Ressentiments gegen sein Milieu.

Meine Bücher handeln immer von den Widersprüchlichkeiten meines eigenen Menschseins. Sie sind der Versuch, mich den Lesern zu erklären und transparent zu machen. Ich würde mich gern selbst verstehen. Ich wünschte, ich wäre mit meinen Gefühlen und Gedanken in Einklang. Gott sei Dank bin ich es dann aber doch nicht.

Steckbrief

7. Juni 1952
Orhan Pamuk wird in Istanbul in eine prowestliche, Atatürk-freundliche Großfamilie geboren.

1982
Der erste Roman „Cevdet und seine Söhne“ erscheint, in den nächsten Jahrzehnten folgen u. a. „Das Stille Haus“, „Die weiße Festung“, „Das schwarze Buch“, „Rot ist mein Name“ und „Schnee“.

2005
In einem Interview kritisiert er die Leugnung des Massenmords an den Armeniern durch die türkische Regierung, eine Klage wegen „öffentlicher Herabsetzung des Türkentums“ folgt. Im selben Jahr erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

2006
Nobelpreis für Literatur.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2016)

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