Die Psyche aus nächster Nähe

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In ihrem dritten Roman konzentriert sich Sarah Kuttner ganz auf das Seelenleben ihrer Protagonistin Jule. Zu großen Erkenntnissen kommt der Leser dabei leider nicht.

Es ist ja so eine Sache mit Erfahrungen. Selbst wenn man sie innerlich zu den Akten gelegt hat, werden sie uns das ganze Leben über begleiten. Sie haben uns zu dem gemacht, was wir sind, beeinflussen unsere Handlungen – und die Bilder, die wir oder andere von uns haben. Bei Autorin Sarah Kuttner haben bis vor wenigen Jahren die wenigsten erwartet, dass sie einen Roman veröffentlichen wird. Zu präsent waren noch die Bilder ihres (oft belanglosen) Gelabers, das sie als Moderatorin des Musiksenders Viva von sich gab.

Bei ihrer Protagonistin Jule sind es die Erfahrungen in der Kindheit, die sie zu einem ziemlich gestörten Persönchen gemacht haben. Ständig auf der Flucht vor sich selbst. Mit einer großen Wut im Bauch, eine Frau, die alles hasst, was sie tut. Das erfährt der Leser schon im ersten Satz „Ich bin kein schöner Mensch“, lässt Kuttner ihre Jule sagen. Mit „180° Meer“ hat Sarah Kuttner bereits ihren dritten Roman veröffentlicht. Und wie ihr Erstling, „Mängelexemplar“, geht es wieder hinab in die Tiefen der weiblichen Psyche. In jene von Jule eben. Die zur „Wir finden uns im Leben nicht zurecht, aber cool sind wir trotzdem“-Generation gehört. Die falschen Soul singt und ihren Freund betrügt: „Beim Sex interessiert es keinen, wie es in mir aussieht.“ Als der Freund von ihren Affären erfährt, verlässt sie Deutschland gen England, um dort – wie es der Zufall so will – ihren Vater zu treffen, der im Sterben liegt. Doch all das erlebt der Leser wie durch einen Schleier.

Zoom auf das Gefühlsleben. Im Zentrum stehen Jules Gefühle. Jede Regung, jeder Schauer, der ihr über den Rücken fährt, wird erwähnt. Die Joints, ihr Selbsthass, ihre Wut, ihre Liebe zu Freund Tims Achselhöhlen, ihre Unfähigkeit, das Verhalten des Hundes eines WG-Kollegen zu interpretieren, der selbst therapiert gehört.

Dabei stört nicht einmal die einfache Sprache (wer denkt schon in langen Sätzen über sich selbst nach). Die Geschichte kommt zu kurz. Jules Annäherung an ihren Vater, die Depressionen ihrer Mutter, ihre Annäherung an sich selbst erklären trotzdem mehr, woher sie kommt, und nicht, wohin sie geht. Ihr Charakter macht nicht so recht eine Entwicklung durch. Obwohl der Bruder in London – und der einzige Mensch, mit dem sie sich wirklich gut versteht – ihr in bester Küchenpsychologenmanier mit klugen Sätzen zur Seite steht. Und das Meer (und der 180-Grad-Meerblick) etwas Erleichterung vom Leidensdruck bringt.

Klar, ein paar Enden lassen sich zu einer Schleife binden (wie es Jules Freund Tim gern tut), aber der große Wurf gelingt nicht. Viele Fragen bleiben in dem Roman unbeantwortet. So sehr, dass die Geschichte am Ende des Buchs noch nicht annähernd fertig erzählt ist. Das Leben ist eben kein Indie-Film, lässt Kuttner ihre Protagonistin immer wieder bei sich denken.

Ja eh, aber so einfach ist es dann auch wieder nicht. Denn ein Aneinanderreihen von Szenen ist noch kein Film. Nach der letzten Seite bleibt der Leser enttäuscht zurück.

Neu Erschienen

Sarah Kuttner
„180°Meer“
S. Fischer Verlag
272 Seiten
19,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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