Bekenntnisliteratur: Der beschädigte Narziss kotzt sich aus

Honoré Daumiers Druckgrafik „Der schöne Narziss“ (1842).
Honoré Daumiers Druckgrafik „Der schöne Narziss“ (1842).(c) Staatliche Kunstsammlung Dresden
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Benjamin von Stuckrad-Barre und Karl Ove Knausgård liegen im Trend: In ihren Werken erzählen Autoren neuerdings gern breit von ihren Schwächen und Süchten. Wenn Frauen bekennen, geht es dagegen meist um Sex.

Es gab es einmal, und das ist gar nicht lang her, eine Zeit, da war folgende Frage an einen Schriftsteller verboten: „Wie viel an Ihrem Roman ist autobiografisch?“ Ganze Poetik-Vorlesungen wurden darüber gehalten, wie das denn so sei mit der Fiktion und der Realität, wie es vonstattengehe, dass das Leben in die Literatur einfließe, bis es nicht mehr das Leben ist, sondern etwas ganz anderes, Kunst eben.

Und jetzt das: Immer häufiger gefallen sich Autoren wie Karl Ove Knausgård, Tomas Espedal und Benjamin Stuckrad-Barre nicht mehr als Literaten, sondern als Bekenner. Alles echt, was da passiert sei! Alles garantiert selbst erlebt! Die Welt, meinen etwa Espedal und Knausgård, sei ohnehin überfiktionalisiert. Und die Rezensenten überschlagen sich. „Ehrlich“ ist das neue Lieblingslob, auf Platz zwei folgt: „Aufrichtig“. Woher kommt diese neue Lust an der angeblichen Unmittelbarkeit? Wann wurde vergessen, dass die Avantgarde den klassischen Erzähler eben deshalb gekillt hat, weil er die Welt in ihrer Komplexität unzulässig reduziert, ohne dies sich und seinen Lesern klarzumachen? Damals unternahmen Schriftsteller alle möglichen Experimente, um die Realität entweder doch noch einzufangen (mittels Collage und Montage etwa) oder wenigstens dem Leser die Illusion zu nehmen, ein Roman bilde „die Wirklichkeit“ ab.

Kunstlosigkeit als Kunstgriff

Der Norweger Karl Ove Knausgård geht hinter die modernen Erzähltheorien zurück und und es interessiert ihn auch nicht, dass man sich neuen Studien zufolge nicht an ein Ereignis erinnert, sondern nur an die letzte Erinnerung daran. In seinem Zyklus „Mein Kampf“, dessen einzelne Romane programmatisch kurze Titel wie „Spielen“ „Träumen“ oder „Lieben“ tragen, wird die eigene Biografie naiv und plan erzählt, wobei es zum Erfolgsrezept der neuen Bekenntnisliteratur gehört, dass man sich nie gewiss sein kann, ob Wiederholungen, Banalitäten und Leerläufe passieren – oder ob sie gewollt sind: die Kunstlosigkeit als Kunstgriff, um den Anschein der Authentizität zu wahren.

Der Roman als Roman scheint in Verruf geraten zu sein. Nach der Krise der Politik („Die da oben“) und der Medien („Lügenpresse“) erleben wir eine Krise der Literatur: Dem gestaltenden Autor wird misstraut, stattdessen greift man lieber zur „echten“ Geschichte. Und, bitte, ohne jede Ironie! Mit sittlichem Ernst! Und gern auch recht traurig.

Der Welt des Scheins, der von Facebook und Co. auf Hochglanz poliert wird, soll eine neue Ehrlichkeit entgegengesetzt werden. Statt hübsch angerichteter Fotos von confiertem Eidotter also die Beschreibung der eigenen Bulimie bei Stuckrad-Barre in seinem jüngstem Buch „Panikherz“. Er erspart sich und seinen Lesern – die neue Ehrlichkeit muss an die Grenzen der Peinlichkeit und darüber hinaus gehen, sonst wird sie unglaubwürdig – so gut wie nichts: Nicht den Handrücken, der blutet, weil er sich mit Wucht die Finger in den Hals steckt, nicht die Ödeme und nicht die seltsame Bulimiker-Logik, wonach man vor einer Fressattacke am besten rote Gummibärchen isst, dann weiß man beim Wiederheraufwürgen, wann der Magen wirklich leer ist: wenn der rote Geleeklumpen hochkommt nämlich.

Auch Espedal und Knausgård gehen gern an Grenzen, um den Leser im Glauben zu wiegen, dass sie garantiert nichts verschweigen: Tomas Espedal windet sich in „Wider die Natur“ vor seelischem Schmerz. Die junge Geliebte hat ihn verlassen, er bleibt allein im putzigen Häuschen zurück: „Kann nicht ordentlich essen, schlafe schlecht, räume nicht auf, putze nicht, der Dreck sammelt sich, im Haus, am Körper. Wo kommt der Geruch her, von außen, von innen, wie der Geruch von abgestandenem Wasser, es ist schwierig geworden, sich zu bewegen.“

New Sincerity in den USA

Während Männer mit der Stirnlampe in ihre seelischen Abgründe leuchten (seht nur, auch Männer haben Gefühle!), geht es bei den bekennenden Frauen eher um Sex (seht nur, auch Frauen mögen Sex!). Das war schon bei Charlotte Roche so, die in „Feuchtgebiete“ erstaunlich explizit geworden ist, wobei sie den Hinweis, vieles an dem Buch sei autobiografisch, mit der Beteuerung verband, sie verstehe sich gar nicht als Schriftstellerin. Und das begegnet einem bei Marie Calloway wieder, die in den USA als Vertreterin der New Sincerity gefeiert wird – unter diesem Begriff läuft dort die Bekenntnisliteratur. „Es hat echt überhaupt nichts mit dir zu tun“ (Ullstein Verlag) beginnt mit dem Geständnis, sich prostituiert zu haben, ausführliche Beschreibung von Anbahnung und Vollzug inklusive.

Wobei: Bei Marie Calloway handelt es sich, neue Ehrlichkeit hin oder her, um eine Kunstfigur. Und es ist die Kunstfigur, die im Netz auf Anfragen wie „willst du mal von einem schwanz durchgefickt werden der größer ist als Zs“ antwortet. Und das gibt dem Buch, obwohl auch diese Autorin sich betont ernsthaft, traurig und beschädigt gibt, dann doch eine ironische Note.

Einer der Meister in diesem Spiel mit dem Alter Ego ist Thomas Glavinic. Er hat 2007 mit „Das bin doch ich“ einen Roman vorgelegt, der autobiografisch war oder eben auch nicht. Und im eben erschienenen „Der Jonas-Komplex“ ist er wohl ebenfalls doch nicht er selbst. Und das gleich dreifach, als Bub, als Mann und als Jonas. So ein offenes Spiel ist vermutlich aufrichtiger, als es die neue Ehrlichkeit je sein wird.

Die Bücher

Benjamin von Stuckrad-Barre berichtet in „Panikherz“ detailreich von seiner Bulimie und seiner Kokainsucht (Kiepenheuer & Witsch).

Karl Ove Knausgård gilt mit „Träumen“, „Leben“, „Lieben“ (Luchterhand) als wichtigster Vertreter der neuen Bekenntnisliteratur.

Tomas Espedal windet sich in „Wider die Natur“ vor Liebesschmerzen (Matthes & Seitz).
Marie Calloway wird in den USA als Vertreterin der „New Sincerity“ gefeiert (Ullstein).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2016)

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