Esterhaźys Markus-Evangelium: Der einsame Gott ist gefährlich

INTERVIEW: PETER ESTERHAZY
INTERVIEW: PETER ESTERHAZYAPA/HERBERT PFARRHOFER
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In „Die Markus-Version“ erzählt der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy von einer nie endenden kindlichen Gottessuche – und vom Unglück einer Familie, die als „Volksfeinde“ unter Stalin in ein Dorf verbannt wurde.

Gleich vorweg: Die Erzählung vom leeren Grab fehlt in dieser Version des Markus-Evangeliums. Mit dessen knappen Worten über den Tod Jesu bricht sie ab, mit dem Satz des Hauptmanns: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen“ – und der Feststellung: „Es gibt kein Ende. Das ist der Schluss.“

Ein viel deutbarer Schluss natürlich, raffiniert, wie man es vom ungarischen Schriftsteller Péter Esterházy kennt. Kurz wie das kürzeste aller Evangelien ist seine soeben auf Deutsch im Hanser Verlag erschienene 100-seitige „Markus-Version“; untypisch kurz für diesen Autor, der ein Meister der barocken Umschweife und Weitschweifigkeiten ist, etwa in seinem bekanntesten Roman, „Harmonia Caelestis“.

Und so wie der Evangelist Markus die menschliche Seite von Jesu in den Vordergrund stellt, hebt Esterházys sehr persönlicher Text die Grenze zwischen seinen am Leben leidenden, zweifelnden, fragenden, einander verratenden und sich verlassen fühlenden Figuren und Jesus auf: Dieser erzählt in den zitierten Passagen der Leidensgeschichte in der Ichform.

Der andere, eigentliche Icherzähler ist ein Bub. Er, seine Eltern, seine zwei Großmütter väterlicherseits und sein Halbbruder wurden unter Stalin als „Volksfeinde“ aus Budapest in ein nordungarisches Dorf umgesiedelt, sie leben bei einem Großbauern, zusammen in einem einzigen Zimmer. Aus der Sicht des Buben erfährt man Splitter aus dem Leben seiner Familie und seinem eigenen kindlichen Innenleben – mit dem er in der Wirklichkeit allein bleibt: Sein Nichtsprechen macht die Eltern glauben, er sei taubstumm.

Das inspirierte Unglück

Der trinkende Vater, der sich von der ihrem ersten Mann nachtrauernden Mutter nicht geliebt fühlt; eheliche (Selbst-)Zerfleischungen, bittere Lebensverhältnisse, Schlaganfall und später Tod der Großmutter – viel Unglück gibt es in diesem Text. Dem Tonfall dieser so fein gewobenen Erzählung merkt man das nicht an, er hat etwas Heiter-Inspiriertes, Verspieltes. Er könne auch über seinen Bauchspeicheldrüsenkrebs beschwingt sprechen, sagte Péter Esterházy vor einigen Monaten... Auch über Gott kann er das. Und von dem ist auf fast jeder Seite die Rede. „Ich habe nicht gezählt, aber am meisten denke ich an Gott“, bekennt der Icherzähler. „Öfter als an meine Eltern, öfter als ans Spielen, öfter als an den roten, toten Luftballon.“ Das verdankt er der gläubigen Großmutter, die dem Enkel nicht nur so viel von Gott erzählt, sondern diesen auch mit ihrem Glauben tief zu beeindrucken scheint: „Sie kann auf eine Weise von Gott erzählen, dass es unbegreiflich wird, dass er nicht sein soll.“ Mindestens ebenso sehr beeindrucken ihn ihre Momente des Zweifels angesichts des Verlustes ihres Sohnes: „Wenn ihr Sohn tot war, dann war auch Gott tot, war Gott nicht.“

Das an der Wand hängende Jesuskind, die erste Erinnerung, die der Icherzähler an seine Kleinkindjahre hat, sagt ihm, „dass es etwas Sicheres gibt“. Dieser lächelnde Jesus ist für ihn real; nicht so der Jesus am Kreuz – der ist, glaubt er, nur zur Abschreckung da. Fragen über Fragen: Was wäre ein fetter Jesus, einer mit Wanst und Doppelkinn? Ist Gott ein Vorbild? (Nein.) Ist der Gott der Großmutter derselbe wie seiner? Und lacht er? „Gott kann nicht lachen“, denkt sich das Kind. „Ich wäre nicht gern an seiner Stelle. Es ist besser, ein Mensch zu sein als Gott.“ Gott ist einsam wie die Menschen, auch das denkt sich das Kind. Vor allem, wenn es nicht zu ihm betet. „Der einsame Gott ist gefährlich. Auf jeden Fall unberechenbar.“ Aber nicht nur deswegen hat es das Gefühl, unentwegt beten zu müssen; viel mehr noch, „um zu glauben. Damit jemand ist, an den ich glaube. Damit Gott ist.“

Nach dem Schluss, der „kein Ende“ ist, folgt unvermutet noch etwas: Anmerkungen, in denen Esterházy Zitate, Inspirationen verrät, Spuren legt zu Wittgenstein oder Simone Weil, Ignatius von Loyola, Kierkegaard oder Kertész; eine Einladung an den Leser, die „Markus-Version“ gleich noch mal zu lesen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2016)

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