"Postkapitalismus": Befreit von Arbeit und auch vom freien Markt

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Der Brite Paul Mason träumt vom Ende der Herrschaft des Neoliberalismus. Laut „Postkapitalismus“ wird die Informationstechnologie eine neue Welt entstehen lassen, in der die „Gesellschaft“ die Funktion des Staats übernimmt.

Für den britischen Autor Paul Mason ist der böse Kapitalismus beinahe schon am Ende. Die Prognose des ausgebildeten Musiklehrers, der mehrere Jahre als Wirtschaftsjournalist für die BBC, dann für den Privatsender Channel 4 tätig war: Die digitale Revolution werde der neoliberalen Form des Kapitalismus den Garaus machen, denn es werde doch „immer deutlicher, dass Informationsgüter nicht mit den Marktmechanismen vereinbar sind“. Mason prognostiziert in seinem eben auf Deutsch erschienenem Buch „Postkapitalismus“ (das stark von Peter Druckers bereits 1993 erschienenem Werk „Post-Capitalist Society“ profitiert), dass sich Begriffe wie Arbeit, Produktion und Wert durch das Wesen der IT radikal ändern, dass sich statt freier Märkte und Privateigentum mehr und mehr Gemeinsinn entwickeln werde. Als Beispiel nennt er Wikipedia. Dieses Online-Wissen, von ca. 27.000 Freiwilligen gratis erstellt, habe kommerzielle Lexika praktisch überflüssig gemacht.

Aber kann man von einem Hobby auf das große Ganze schließen? Werden die Manager und Investoren globaler IT-Konzerne wie Google, Microsoft, Facebook und Apple, sobald sie dieses gelehrte Elaborat gelesen haben und wissen, dass Information frei verfügbar sein soll, von ihrem Gewinnstreben ablassen und sich reumütig zum Neomarxismus bekehren lassen? Noch gibt es dafür, wenn man die Umsätze und Gewinne dieser Firmen sieht, wenig Anzeichen. Das aber ist ein vernachlässigbares Problem für jemanden, der in die ferne Zukunft blickt und sich moralisch auf jeden Fall im Recht fühlt.

Zwischen Bankrott und Unterwerfung

Der Sohn und Enkel von Bergarbeitern hat eine Menge linksradikaler und auch liberaler Literatur in seinem Buch verarbeitet, er zeichnet die Geschichte der Industriegesellschaft mit viel Liebe zum Detail nach. Emotional wird er, wenn er von den harten Lebensbedingungen der Großmutter schreibt, klassenkämpferisch, wenn es um die Regierungsjahre der Eisernen Lady Thatcher geht, irrational bei Themen wie Moldawien (ein Opfer des Westens!) und dem griechischen Finanzdesaster. Alle sind an Letzterem schuld, die EZB, der IWF, die Ausbeuter also – nur nicht die Politiker in Athen: „Die linke Regierung musste zwischen Bankrott und Unterwerfung wählen.“ Mason ist ein Gesinnungsgenosse jener wilden Denker, die den Kapitalismus in jeder seiner bisherigen Formen seit 200 Jahren immer wieder für tot erklärt haben. Auch betrachtet er langfristige Konjunkturzyklen quasi organisch, so wie der sowjetische Ökonom Nikolai Kondratjew, der 1938 ein Opfer des Stalinismus wurde. Zumindest hatte jener die Adaptionsfähigkeit freier Wirtschaft erkannt. Mason aber stört die aktuelle Version davon. Für ihn ist der Neoliberalismus ein Feind. Angeblich propagieren seine Vertreter unkontrollierte Märkte sowie die Zerstörung der Arbeiterklasse und des Sozialstaats.

Jedenfalls glaubt Mason, dass sich diese Wirtschaftsform nicht mehr lang an die Bedingungen der Informationsgesellschaft anpassen könne: „Der wesentliche innere Widerspruch des modernen Kapitalismus ist der zwischen der Möglichkeit kostenloser, im Überfluss vorhandener Allmendeprodukte und einem System von Monopolen, Banken und Regierungen, die versuchen, ihre Kontrolle über die Macht und die Informationen aufrechtzuerhalten. Es tobt ein Krieg zwischen Netzwerk und Hierarchie.“ Entweder entstehe ein „kognitiver Kapitalismus“, oder das Marktsystems werde kollabieren. Der Industriekapitalismus nähere sich nach 240 Jahren möglicherweise seinem Ende. Ganz im Sinn des Philosophen Karl Marx, zumindest nach seinem „Maschinen-Fragment“, würde es von der Knappheit zum Überfluss kommen, Information würde kostenlos sein, freie Maschinen würden die Arbeitszeit auf ein Mindestmaß reduzieren.

Ökologische Horrorszenarien

Die Netzwerke sollen also alle übergeordneten Strukturen aufbrechen. Mason stellt recht viele Projektionen an, sie gipfeln nach dem Aufzählen von Horrorszenarien (Klima, Umweltverschmutzung, ungezügeltes Bevölkerungswachstum, Massenarbeitslosigkeit) im Geist der Utopie. Uns biete sich eine große Chance: „Es ist tatsächlich möglich, den freien Markt, die von fossilen Brennstoffen abhängige Energieversorgung und die verpflichtende Arbeit kontrolliert zu beseitigen.“ Und dann? Was geschieht mit dem Staat? „Er verliert im Lauf der Zeit vermutlich an Einfluss – und schließlich übernimmt die Gesellschaft seine Funktionen.“

Und die Moral von der Geschichte? Lasst uns alle gemeinsam individuell sein, in unseren virtuellen Rückzugsräumen, finanziert durch ein garantiertes Grundeinkommen ohne Arbeit, in einer freien und gleichen Gesellschaft, jenseits aller Verteilungskämpfe, versorgt mit einer Infrastruktur, die ebenfalls umsonst ist. Schon der alte Marx träumte vom Hauptziel der Arbeiterklasse – der Freiheit von der Arbeit. Ihre Befreiung werde durch die Freizeit kommen. Also: Die Arbeit hoch! So hoch, dass man nicht rankann.

LEBEN UND WERK

Paul Mason, *1960 in Leigh, war als Pädagoge, Journalist und TV-Moderator tätig. Er schrieb u. a. „Meltdown“, „Why It's Still Kicking off Everywhere“ und „Rare Earth“. Soeben erschienen: „Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie“. Deutsch von Stephan Gebauer: Suhrkamp Berlin 2016, € 27,70. Am 23. Mai (19h) tritt Mason im Bruno-Kreisky-Forum auf (Armbrustergasse 15).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2016)

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