Vom Leben im Schtetl

Grigori Kanowitschschreibt in seinem autobiografisch geprägten Buch über das jüdische Leben im litauischen Jonava. Ein wunderbar warmherziger Roman.

Großmutter Roche bekam irgendwann den Spitznamen „Samurai“ verpasst, und das, obwohl sich im Städtchen Jonava kaum jemand etwas darunter vorstellen konnte. Bis nach Japan hatte es noch kein Bewohner geschafft, und auch die Verfügbarkeit von asiatischer Literatur hielt sich in Grenzen. Aber „Samurai“, das passte irgendwie zu Roche, der jammernden, ruppigen und liebevollen Großmutter von Hirschke.

Rund um Roche und ihre Familie erzählt Grigori Kanowitsch in seinem autobiografisch geprägten Buch „Kaddisch für mein Schtetl“ vom jüdischen Leben im litauischen Jonava. Ein wunderbarer Roman voll familiärer Warmherzigkeit, durch den sich wortreiche und unterhaltsame Dialoge ziehen, bis der Zweite Weltkrieg nach Litauen vordringt und das jüdische Jonava auslöscht.

Es sind liebenswürdige Charaktere, an die sich Kanowitsch alias Hirschke erinnert. Neben Roche sind es seine Eltern, die tatkräftige Chanke und Schlojmke, der Schneider. Schlojmke glaubt nicht so sehr an Gott, dafür aber an Fleiß und Arbeitswillen, ganz im Gegensatz zu seinem Schwager Schmule, der von nichts anderem redet als von Lenin und Stalin, Stalin und Lenin. Kanowitsch erzählt von den wohlhabenden Kremnizers und dem bettelarmen Avigdor, vom Schtetl-Doktor Blumenfeld und den alten Kochans, von der jiddischen Schule und der großen Synagoge. Ein schöner und zugleich trauriger Ausflug nach Litauen. duö


Grigori Kanowitsch: „Kaddisch für mein Schtetl“. Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau Verlag, 509 Seiten, 24,95 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.05.2016)

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