Höflichkeit: Ein Schmiermittel, bitte schön

Rainer Erlinger ergründet den Wert der „wertlosen Tugend“ Höflichkeit.
Rainer Erlinger ergründet den Wert der „wertlosen Tugend“ Höflichkeit.Beigestellt
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Autor Rainer Erlinger analysiert in einem Buch die Aktualität der Höflichkeit. Mit dieser könnte man reibungslos durch Alltag und Großstadt flutschen und tanzen.

So viele Dinge. So viele Ellbogen. So viele Türen, die einem ins Gesicht fallen können – da bewegt sich so einiges durch die Großstadt, an dem man sich stoßen könnte. Menschen vor allem. Die waren zumindest so schlau und haben – von vielen allerdings unbemerkt – selbst ein soziales Betriebssystem installiert, um das Alltagsleben möglichst reibungslos abzuspulen: die Höflichkeit. Der Autor Rainer Erlinger nennt sie den „Schmierstoff“ der Gesellschaft. Höflichkeit sei eine Haltung, meint er. Und wer sie vor sich herträgt, der flutscht auch besser durch die Situationen, in denen Menschen manchmal eher kollidieren als sich zu begegnen. Denn dichter wird die Welt. ­Reibungspunkte werden zu -flächen. Und auf diesen gleite man mit einer höflichen Haltung einfach besser, angenehmer und auch erfolgreicher, zeigt Erlinger in seinem Buch „Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend“, das im Fischer Verlag erschienen ist.

„Allein auf dem Bergrücken ist Höflichkeit natürlich nicht so essenziell, als wenn ich mich in der Rush-Hour durch die Stadt bewege“, sagt Erlinger. Dort, wo es haken könnte, schmiert Höflichkeit am effektivsten. Aber auch als Distanzhalter, wenn es zu eng wird, dient sie. „Man kann Höflichkeit wie einen Schutzschild vor sich hertragen. Durch extreme, kühle Höflichkeit kann man andere auf Distanz halten.“ Doch bevor man die Option auf Distanz oder Vorbeiflutschen überhaupt ziehen könnte, in Form des Jokers Höflichkeit, scheitern viele schon an der Grundvoraussetzung, andere auch wahrzunehmen: Ah ja, da ist noch einer.

„Der Kern der Höflichkeit ist tatsächlich die Wahrnehmung“, sagt Erlinger. Wenn man etwa jemandem die Tür aufhalte, dann fungiere das in erster Linie auch als Geste. „Eine Geste, die sagt: ,Ich beachte dich.‘ Das ist ein Teil der Achtung vor dem anderen.“ Doch beachtet werden, das wollen viele. Die blinkenden Screens der Großstadt, die Piepse und Düdeldüs der Handys, man selbst auf Facebook und Instagram. Der virtuelle Raum – der allerdings könnte auch mitverantwortlich dafür sein, dass man nicht nur Augenkontakt verliert, sondern auch den Kontakt zur eigenen höflichen Haltung, meint Erlinger. Vor lauter Unverbindlichkeit und Anonymität pflegt man zwar virtuelle Freunde, aber kaum Umgangsformen. „Zu einem Großteil daran schuld ist, das zeigen Studien, dass man kein Gegenüber wahrnimmt.“ Phänomene des Virtuellen schwappen in den realen Raum, hat Erlinger festgestellt. Wenn etwa Pegida-Demonstrationen und ähnliche Aufmärsche sich die Praxis von Hasspostings sprichwörtlich auf die Fahnen heften. „Ich habe ein wenig Angst, dass die Feindseligkeit im Internet auf das wirkliche Leben abfärbt.“

Auf Augenhöhe

Am Anfang seines Buches befasst sich Erlinger auch mit einer Radierung von Paul Klee: „Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begrüßen sich“, ist es betitelt. Offensichtlich zeigt es Kaiser Franz Joseph I. und Kaiser Wilhelm II. Jeder scheint sich vor dem anderen noch ­tiefer krümmen zu wollen. Schließlich sind beide nackt, also frei von etwaigen Hinweisen auf Rang und Stellung. Eine Verbeugung allerdings vor Rolle, Amt oder Position des Gegenübers, das habe nichts mit Höflichkeit zu tun. Selbst wenn das Wort etymologisch mit dem „rechtem Verhalten am Hof“ begründet wird. Doch der Kaiser verbeugt sich nicht. Aber Achtung, die Grundlage für Höflichkeit, könne nur auf gleicher Ebene passieren. Auch deshalb hält Erlinger es etwa für „gut und notwendig“, auch Bitte zu sagen, selbst wenn man sich bedienen lässt: „Das signalisiert dem Gegenüber, etwa einem Kellner, dass man ihn als Menschen auf gleicher Ebene sieht.“

Rainer Erlinger:
Rainer Erlinger: "Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend"Fischer Verlag

Höflichkeit ist eine Verhaltensform. Und so können sie sich Kinder auch abschauen: „Kinder erlernen zuerst die Formen der Höflichkeit und füllen sie erst später mit Inhalt, mit dem moralischen Anspruch der Achtung vor dem anderen.“ Die Erziehungsaufgaben generell, bemerkt Erlinger, werden ohnehin schon seit Längerem an Schulen und andere Institutionen delegiert. Manchmal sogar an die Verkehrsbetriebe einer Stadt, die Stimme aus dem Lautsprecher als Höflichkeitserzieherin: Bitte nichts Stinkendes essen, nicht laut Musik hören und, bitte schön, die Älteren sitzen lassen. Letzteres: ein prototypischer Fall für Höflichkeit, wie ihn Erlinger in seinem Buch beschreibt. Doch auch nicht ganz unproblematisch: Denn wer für jemanden aufsteht, hat den anderen längst kategorisiert. Aha, gebrechlich! Ganz ohne die rasche Typisierung funkioniert es im Alltag allerdings nicht: „Dazu hat man viel zu viele Situationen täglich abzuspulen.“

Durch den Alltag tanzen

In U-Bahnen begegnet man nicht nur Menschen, die man sofort als gebrechlich einordnet, sondern auch einem Phänomen, das gerade in New York laut Erlinger ausgiebig diskutiert wird: dem „Manspreading“. Meist männliche Fahrgäste zeigen auf engen U-Bahn-Sitzen gern testosteronindiziertes Revierverhalten und spreizen die Beine weit auseinander. Schon müssen die Verkehrsbetriebe in New York auf Plakaten mahnen, das doch bitte zu unterlassen. So nah wie dem Gegenüber in der U-Bahn kommt man anderen Menschen, mit denen man keine Liebesbeziehung hat, meist nur beim Tanzen, einer der elegantesten Formen und Möglichkeiten, sich zu begegnen. Der Tanzlehrer und Supervisor der Opernball-Eröffnung, Roman Svabek, befand bereits, dass Tanzen nicht nur eine gute Schule für Benehmen und Etikette sei, sondern auch für das, was Rainer Erlinger unter Höflichkeit versteht. Man lernt, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, sie wahrzunehmen und auf diese Wahrnehmung mit einem bestimmten Verhalten zu reagieren. So bekommt man ein Gefühl für das Gegenüber. Und wie bei Tanzschritten könne man mit Höflichkeit durch den Alltag gleiten. Vor allem, wenn alles schön im Takt verläuft: „Taktvolles Verhalten ist eines, das das Gegenüber nicht spüren lässt, dass es höflich behandelt wird.“

Rainer Erlinger ist Mediziner, Jurist und Publizist. Durch seine wöchentliche Kolumne „Gewissensfrage“ im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ wurde er bekannt. Sein Buch „Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend“ ist im Fischer Verlag erschienen

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