Ein Gesellschaftsspiel mit dem Bücherregal

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Philipp Albers und Holm Friebe luden Berliner Literaturschaffende zum Neudichten und Erraten von Romananfängen. Das Ergebnis ist sowohl amüsantes Spielprotokoll als auch Anleitung zum Nachmachen.

„Zugegeben: Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, . . .“ So beginnt „Die Blechtrommel“ von Günter Grass, aber wie geht der Anfang dieses Romanklassikers weiter? Folgen Schachtelsätze oder ein Satzstakkato? Wird es langatmig-blumig oder sehr kurz? Spricht der Autor uns Leser an oder nicht? Der erste Satz und seine Aura sind Ausgangspunkt eines literarischen Lexikonspiels, das die in Berlin lebenden Autoren Philipp Albers und Holm Friebe vor 15 Jahren in ihrem Freundeskreis erdacht haben und nun einer breiteren Öffentlichkeit unterbreiten wollen. Dabei schreiben die Mitspieler den ersten Satz eines Romans weiter – und später wird der Original-Anfang erraten. Sie nennen ihr Spiel „Mimikry“ (Nachahmung), so heißt auch der soeben erschienene Band (Blumenbar, 348 Seiten), der die detaillierte Spielanleitung darstellt.

Im vergangenen Jahr haben Albers und Friebe insgesamt 101 Personen aus dem deutschsprachigen Literaturbetrieb gebeten, dieses Spiel an 19 verschiedenen Abenden an unterschiedlichen Orten zu spielen. Dazu gehören ein Gastgeber, der zu sich lädt, fünf bis sieben Mitspieler und ein Chronist, der den Abend protokollarisch festhält. Die Gäste entscheiden zu Beginn des Abends vor dem Bücherregal, mit welchen Romanen (z. B. Philip Roths „Portnoys Beschwerden“, Jack Kerouacs „Unterwegs“ oder Wolfgang Herrndorfs „Plüschgewitter“), Sachbüchern oder gar Kochrezepten (etwa: Yotam Ottolenghis „Pochiertes Huhn mit Frikeh-Pilaw) sie spielen wollen. Danach nehmen sie Stift und Zettel und dichten neue Anfänge für die ausgewählten Werke.

Eingangstor in die Welt des Romans

Der Spielleiter liest schließlich alle gedichteten und den originalen Anfang vor, und die Spieler müssen das Original erraten. Im Buch „Mimikry“ bildet je ein Spieleabend ein Kapitel. Da lud zum Beispiel Holm Friebe eine Runde von Freunden ein, die junge Autorin Ronja von Rönne verfasste die Spiele-Chronik, Christian Werner fotografierte (alle Abende wurden fotografiert). Der Leser kann sein eigenes Gespür für die Autoren testen und die Anfänge raten. Die Auflösung wird erst am Ende jedes Kapitels verraten.
Das Lesen und Spielen von „Mimikry“ wird mit Sicherheit nur Viellesern Freude bereiten. Wer einen Autor gut kennt, weiß auch ungefähr, in welchem Stil er seine Klassiker begonnen hat. Albers und Friebe schreiben in ihrer Einleitung: „Der erste Satz ist Eingangstor und Schwelle in die Welt des Romans, er setzt Stil, Stimmung und Szene.“

Oft offenbare sich ein Buch bereits in einem Splitter. Beim Lesen der verschiedenen Romananfänge ertappt man sich dabei, wie leicht man sich täuschen lassen kann. Wer Spiel und Formulierung wirklich gut beherrscht, schreibt einen besseren Anfang als der Originalautor. Oder hätten Sie gewusst, wie es bei Grass wirklich weiterging?
So: „. . . Sie werden mir also vielleicht nicht glauben, trotzdem werde ich Ihnen erzählen, was ich zu erzählen habe, solange ich kann, bis die Wärter mich wieder wieder fixieren, ich nehme Sie mit nach Danzig, unter die Röcke meiner kasubischen Großmutter.“

Oder so: „. . . mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2016)

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