Sommerlektüre: Die richtige Dosis für den Liegestuhl

Sommerlektüre
Sommerlektüre(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Egal, ob besonders anspruchsvoll oder luftig leicht, Liebesromane oder Mordfälle: Wir lesen in den Ferien anders als im Alltag. Die Redaktion schenkt Ihnen persönliche Lesetipps für den Sommer.

Es mag Menschen geben, die der heute zu Ende gehenden Fußball-EM bereits nachtrauern. Dabei haben die nun wieder freien Nachmittage und Abende auch ihr Gutes: Rechtzeitig zur Urlaubssaison fällt die Verpflichtung weg, die schönste Zeit des Jahres vor einem Großbildschirm zu verbringen. Jetzt beginnt die Lesezeit.

Kognitivforscher in New York haben kürzlich bestätigt, dass wir in den Ferien und im Urlaub tatsächlich ein anderes Leseverhalten entwickeln als im Alltag. Im Grunde ist es völlig egal, was wir lesen, fest steht nur, dass wir jetzt anders lesen. Weil wir weniger gestresst sind und uns im Liegestuhl am Strand oder an Deck eines Kreuzfahrtschiffs weniger leicht ablenken lassen als auf dem Wohnzimmersofa daheim. Außerdem können komplexe literarische Geschichten unsere Empathie fördern. Wenn wir es schaffen, die tägliche To-do- und To-think-Liste zu Hause zu lassen, dann hat das Gehirn viel mehr Kapazitäten, sich auf komplexe Geschichten einzulassen. Daher schwören manche darauf, in den Ferien vor allem anspruchsvollere, dicke Bücher oder Klassiker der Weltliteratur zu lesen.

Die Klassiker haben wir in unserer kleinen Leseliste ausgelassen, dafür empfiehlt die Redaktion im Folgenden Krimis, Romane, gezeichnete Geschichten und Historisches.

Eine Nacht in Rechnitz und die Folgen

„Und was hat das mit mir zu tun?“ von Sacha Batthyany. Kiepenheuer.

Der deutsche Autor Maxim Biller hat Sacha Batthyany auf die Idee für den Titel zu seinem ersten Buch gebracht. Bei einem Abendessen unter Freunden erzählte Batthyany von seiner entfernt verwandten Tante, Gräfin Margit Thyssen-Battyhány, und ihrem Schloss im südburgenländischen Rechnitz, in dem sie in einer mondhellen Nacht im März 1945 ein rauschendes Fest gab. Gegen Mitternacht verließen einige der Gäste, darunter auch lokale Nazi-Größen, das Schloss und erschossen 180 Juden, die auf den Weitertransport warteten. Biller fragte Batthyany daraufhin: „Und was hat das mit dir zu tun?“

Den Journalisten Batthyani, der damals für die „Neue Zürcher Zeitung“ schrieb und heute Washington-Korrespondent für den „Tages-Anzeiger“ und die „Süddeutsche“ ist, ließ die Geschichte seiner Tante nicht mehr los. Er wollte herausfinden, ob sie und der Rest der Familie von dem Massaker, das in dieser Nacht passiert war, gewusst hatten und warum der Vorfall bis in die späten 1990er-Jahre verschwiegen wurde, bis heute niemand dafür zur Rechenschaft gezogen wurde. Elfriede Jelinek inspirierte die Geschichte zu ihrem 2008 uraufgeführten Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“.

Batthyany begab sich also auf eine jahrelange Recherchereise nach Rechnitz, Budapest und Wien, traf Verwandte, eine Auschwitz-Überlebende in Buenos Aires und fand nichts Bahnbrechendes, aber doch einige Neuigkeiten heraus. Er berichtet dabei immer aus persönlicher Perspektive und gibt viel über sich und seinen Umgang mit diesem Kapitel seiner Familiengeschichte preis. Auf den ersten Blick vielleicht nicht die leichteste Strandlektüre, aber ein spannender und lohnender Bericht eines Kriegsenkels.
(Anna-Maria Wallner)

In der Heide wieder zum Leben erweckt

„Die Lebenden und Toten von Winsford“, Håkan Nesser, 464 Seiten, BTB-Verlag, ca. zwölf Euro

Håkan Nessers „Die Lebenden und Toten von Winsford“ ist eines dieser Bücher, die man innerhalb von drei Tagen ausliest. Dabei ist der Roman des schwedischen Kriminautors gar kein richtiger Krimi – worüber sich Leser in Onlinebewertungen heftig beschweren. Immerhin wurde der Schriftsteller mit den Reihen um den grantigen und intellektuellen Kommissar Van Veeteren und den weniger grantigen und weniger intellektuellen Kriminalinspektor Gunnar Barbarotti berühmt. „Die Lebenden und Toten von Winsford“ handelt nicht von einem Ermittler, sondern von einer Frau Mitte fünfzig. Maria Anderson nennt sie sich. Mit ihrem Hund Castor fährt die Schwedin im November in das (real existierende) Dorf Winsford in die südenglische Moorlandschaft Exmoor. Sie ist auf der Flucht, das errät der Leser schnell. Mit der Beantwortung der Frage „Wovor?“ lässt sich der Autor Zeit.

Maria durchstreift mit ihrem Hund die Heide und bewegt sich dabei oft nah am Nervenzusammenbruch. Sie denkt an die Vergangenheit und liest alte Tagebücher ihres Mannes, in denen ein Geheimnis steckt.

Die Erzählung springt somit auf der Zeitebene hin und her, bleibt aber immer bei der Hauptfigur. Wie beim Häuten einer Zwiebel legt Nesser Schicht um Schicht der Figur frei. Mit jedem Spaziergang durch das Moor, jeder Erinnerung, jeder Begegnung in dieser unwirtlichen Gegend findet Maria mehr zu sich selbst. Löst sich langsam aus ihrer Erstarrung. Mit dieser meisterhaften psychologischen Studie beweist Nesser einmal mehr, dass er der derzeit beste schwedische Krimiautor ist. Gleichzeitig hat der Roman eine kontemplative Qualität, wie man sie von Haruki Murakami kennt. Man darf sich nur keinen klassischen Krimi erwarten.
(Heide Rampetzreiter)

Die Bretagne ist ein neues Sehnsuchtsland

„Bretonische Flut“. Kiepenheuer & Witsch, 448 Seiten, 15,50 Euro

Wer in diesem Sommer in der Bretagne urlaubt, wird vielleicht auch in einer der vielen „maisons de la presse“ einkehren, Mischungen aus Trafik, Zeitschriften- und Buchhandlung – und dort vielleicht wie in den vergangenen Jahren vor einem prominent platzierten Bücherstapel samt Plakat stehen: Werbung für den neuen Bretagne-Krimi eines gewissen Jean-Luc Bannalec. Franzosen, die voller Lust auf Bretagne-Feeling zugreifen, werden überrascht sein zu erfahren, dass die Romane über den kaffeesüchtigen Kommissar Dupin ursprünglich auf Deutsch geschrieben sind und sich hinter dem Namen Jean-Luc Bannalec ein Deutscher verbirgt.

Und nicht irgendeiner, sondern Jörg Bong, Geschäftsführer der S. Fischer Verlage. Das hat er zwar nie öffentlich zugegeben (auch nie dementiert), gilt aber längst als offenes Geheimnis. Seit vier Jahren ist er mit bisher fünf Bretagne-Krimis auch zum Bestsellerautor geworden, selbst in Frankreich dankbar vermarktet; denn seine Bücher, von „Bretonische Verhältnisse“ bis zum neuen, „Bretonische Flut“, zeichnen die Region im schönsten Licht. „Wurde die Bretagne ohnehin mit betörendem Licht bedacht, so steigerte es sich in diesen Tagen noch einmal auf magische Weise“, heißt es in „Bretonische Flut“ über die Sommersonnenwende – an deren Genuss Dupin auf der Île de Sein durch die Entdeckung einer mit Fischabfällen übersäten Frauenleiche gehindert wird. Auch für den neuesten Krimi braucht sich Bong nicht zu genieren: Spannung und Dialoge sind Durchschnitt, die Klischees erträglich – die Atmosphäre aber betörend; kein Wunder, dass die Bretagne schon von deutschen Bannalec-Lesern heimgesucht wird: Liebe kann ansteckend sein.
(Anne-Catherine Simon)

Die Fahrt ans Meer macht alles nur noch schlimmer

"Wir kommen". Aufbau Verlag, 208 Seiten,
18,95 Euro.

Bisher ist Nora, die uns diese Geschichte erzählt, immer ans Meer gefahren, wenn etwas „schlimm“ war. Und jetzt ist alles sehr, sehr schlimm: Die Jugendfreundin Maja ist tot, das behauptet zumindest eine Parte, das behauptet Majas Mutter, ganz will Nora es nicht glauben, denn „die hat früher schon kaum mitbekommen, dass Maja lebt, weshalb es mich wundern würde, wenn sie etwas von Majas Tod bemerkt hätte“. Und als wäre das nicht genug, beginnt es auch in der Beziehung bzw. den Beziehungen zu kriseln. Der Erstling von Ronja von Rönne, 1992 in Berlin geboren, seit 2015 Redakteurin des Feuilletons der „Welt“, erzählt vom Aufwachsen auf dem Land, dem Scheitern in der Stadt und einem Meer, das auch nicht helfen kann. (Bettina Steiner)

Tolle Weltflucht ins Reich der Dichtung

"Verbannt!", Ann Cotten, Versepos. Edition Suhrkamp, 168 Seiten, broschiert, 16,50 Euro.

Soll man in der Sommerfrische Klassiker lesen oder den allerneuesten Stoff? Beides, in einem schmalen Band! Ann Cotten hat selbstbewusst ein von Wortwitz funkelndes, schräges Versepos verfasst in eigenwilligen, komplexen Strophen, etwa im Schema abaabccdd. „Verbannt!“ führt im Schlepptau einer TV-Moderatorin auf die ferne Insel Hegelland. Eine tolle Weltflucht ins raffinierte Reich der Dichtung, gelehrsam, unterhaltend, überraschend dialektisch, jederseits immer wieder neu.
(Norbert Mayer)

Freud trifft Münchhausen, Anna Haifisch zeichnet irre Künstler

„Münchhausen – Die Wahrheit übers Lügen“ von Flix/Bernd Kissel; Verlag Carlsen, 192 Seiten

Der betagte Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, der sich 1938 mit knapper Not vor den Nationalsozialisten aus Wien ins englische Exil retten konnte, wird zu einem besonderen Patienten beordert: Die britischen Behörden, in Panik vor Spionen, haben einen Deutschen inhaftiert, der behauptet, er komme vom Erdbeerenpflücken auf dem Mond. Freud soll herausfinden, was es mit dem Verrückten auf sich hat, der immer wildere Storys auftischt. „Münchhausen – Die Wahrheit übers Lügen“ von Flix/Kissel (Carlsen) ist eine witzige Graphic Novel, nobel ausgestattet, daher auch für Bibliophile geeignet. Das Buch hält auf jeder Seite eine Überraschung bereit. Flix alias Felix Görmann hat auch den „Faust“ neu gezeichnet und getextet: „Ich bin kein Menschenfischer, im Gegenteil“, sagt der Teufel, der Faust „coachen“ will.

Dieser 1991 gegründete Berliner Verlag hat amüsante und keineswegs banale Comics im Programm. „The Artist“, dieses Buch hat mit dem gleichnamigen Oscar-gekrönten Film nichts zu tun, sondern stammt von Anna Haifisch. Die Galerie Diana Lambert (Wien 5, Fendigasse 23) widmet dieser originellen Künstlerin noch bis 29. Juli eine Ausstellung. Die Leipzigerin Anna Haifisch befasst sich auf heiter-skurrile Weise mit Künstlerproblemen zwischen Hybris und Frustration.

Ein vogelartiges Wesen plagt sich im Bett an seinem Laptop und versichert einem Anrufer: „Ich bin schon so gut wie fertig!“ Dann kriecht es unter seine Decke. In „Von Spatz“, einem Rehab-Zentrum für Künstler, beschäftigt sich Walt Disney mit der Frage: Wie konnte der Vater einer Maus den Verstand verlieren? Sehr heiter (Rotopolpress). Eher gruselig als lustig und ebenfalls bei Reprodukt erschienen ist „Fräulein Rühr-mich-nicht-an“ vom Team Hubert/Kerascoët. Es handelt von Frauenmorden im Paris von 1930. Nachdem ihre Schwester getötet wurde, sucht die prüde Blanche als „Gouvernante“ im Bordell nach ihr und erlebt eine teils brutale, teils kuriose Welt von Männerfantasien. Diese Graphic Novel bietet eine Art Kulturgeschichte der Sexualität in bewusst altmodisch-originalen Illustrationen der Zeit.
(Barbara Petsch)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2016)

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