Wie man durch klugen Streit Frieden stiftet

Palestinian girl stands near residential buildings that witnesses said were heavily damaged by Israeli shelling during a 50-day war last summer, in Beit Lahiya town in the northern Gaza Strip
Palestinian girl stands near residential buildings that witnesses said were heavily damaged by Israeli shelling during a 50-day war last summer, in Beit Lahiya town in the northern Gaza Strip(c) REUTERS (SUHAIB SALEM)
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Wo Kulturen und Religionen aufeinanderprallen, debattiert Fraenkel mit den Menschen so wie einst Sokrates über große Fragen. Mit der „Presse“ sprach er über die Lust am Dissens und falsch verstandene Toleranz

Eigentlich wollte Carlos Fraenkel nur sein Arabisch auffrischen. Und die Studenten in Kairo ihr Englisch, damit sie als Fremdenführer arbeiten konnten. Aber beim harmlosen Sprachtandem blieb es nicht. Die frommen Muslime versuchten, den Atheisten Fraenkel zum Islam zu bekehren, um ihn vor der Hölle zu bewahren. Er wiederum hätte seine neuen Freunde gern davor bewahrt, ihr irdisches Leben an ein illusionäres Jenseits zu verschenken. Der Disput mit dem jungen Philosophen, der gerade an seiner Dissertation schrieb, blieb ohne Ergebnis und bereicherte doch beide Seiten. Etwas war aufgebrochen: Erstmals galt es, die eigenen Werte und Überzeugungen mit rationalen Argumenten zu verteidigen. Das kann verwirren, verstören. Aber es fördert Verständnis, beendet die Sprachlosigkeit – und im besten Fall auch die Gewalt.

Dieses Erlebnis inspirierte Fraenkel zu einem ungewöhnlichen Projekt: Der Professor stieg vom Elfenbeinturm und betrat weltanschauliche Kampfschauplätze. Wo Kulturen aufeinanderprallen, organisierte er Seminare und Workshops. Mit palästinensischen Studenten suchte er in Platons Schriften nach Antworten auf den Nahost-Konflikt. In Indonesien debattierte er mit Lehrern darüber, ob die Demokratie zum Islam passt. In Brasilien verwickelte er Schüler in Gespräche über soziale Gegensätze und Ressentiments gegenüber Schwarzen. In New York schütteten ihm chassidische Juden, deren strenger Glaube sich an der Moderne wundreibt, heimlich ihr Herz aus. Und Mitglieder der Mohawk, die um Autonomie im Reservat kämpfen, nutzten ihn als Hebamme in den Geburtswehen einer politischen Gemeinschaft: Wer soll regieren? Wer gehört zu uns? Welche Traditionen sind zu bewahren?

Das Buch: „Mit Platon in Palästina“

Seine Erfahrungen fasste der heute 45-Jährige in einem Buch zusammen: „Mit Platon in Palästina – vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt“. Über die englische Ausgabe jubelte der britische „Independent“: „Wenn Sie dieses Jahr nur ein Buch lesen wollen – dann lesen Sie dieses.“ Für die deutsche Übersetzung hätte Fraenkel auch selbst sorgen können: Als Sohn brasilianischer Juden wuchs er in Deutschland auf. Als seine Eltern, die Brasilien aus politischen Gründen verlassen hatten, wieder zurückzogen, entwickelte der Bub im verhassten „Exil“ einen trotzigen deutschen Nationalismus – bis ihm die genervten Großeltern einen Bildband über den Holocaust schenkten. Das Ins-Wanken-Geraten des eigenen Weltbilds ist also eine Urerfahrung des Autors. Das mag die Einfühlsamkeit erklären, mit der er Debatten moderiert.

Wie Sokrates stellt er nur hartnäckig Fragen. Doch anders als dieser lenkt er seine Gesprächspartner nicht auf seine Lösung hin. Sogar die eigene Position stellt er laufend infrage. Auch sein Begriff von Philosophie ist „bescheiden“, wie Fraenkel im Interview mit der „Presse“ erklärt. Er will weder Gelehrsamkeit zelebrieren noch ewige Wahrheiten verkünden, sondern nur „ein Werkzeug in die Hand geben“ und Tugenden für eine neue Debattenkultur entwickeln. Es klingt so leicht und ist doch so schwer: Immer davon ausgehen, dass man auch selbst unrecht haben könnte. Nicht auf den „Sieg im Gespräch“ abzielen, sondern gemeinsam die Wahrheit suchen. Dazu aber muss man lernen, „mit negativen Emotionen umzugehen“, mit „Angst und Unsicherheit“ am Abgrund des Zweifels. Nur in einer Forderung zeigt sich der sanfte Kämpfer mit Worten unbescheiden: Philosophie als Pflichtfach für Mittelschüler, wie es Brasilien 2008 eingeführt hat, „damit jeder diese Techniken ins Gepäck bekommt“. Einen Trick wendet der Spezialist für Philosophie des Mittelalters freilich an: Gläubige Muslime und Juden erinnert er an ihre eigene verschüttete Aufklärung. Der jüdische Weise Maimonides ließ einst seine Studenten griechische und muslimische Denker lesen, aber keine jüdischen. Araber pflegten Debatten mit Vertretern aller Religionen. Davor mussten sie ihre heiligen Schriften abgeben – erlaubt waren nur allen zugängliche Argumente.

Aber auch ohne diese Rückbesinnung traf Fraenkel nie auf Fromme, die sich hinter ihrem Dogma verschanzten. Zum Selbstdenken, weiß er, zwingen schon die Schriften selbst: Die Bibel ist „aus historischen Sichtweisen zusammengesetzt“, der Talmud „eine endlose Debatte“, der Koran „gibt keine Anleitungen für die Situation“. Vor allem aber schafft es in einer globalisierten Welt keine Glaubensgruppe, sich abzuschotten – außer Jihadisten, durch Denkverbote und Terror nach innen. Die Frage nach dem richtigen Leben steht immer schon im Raum, „durch Migration, Reisen, Austausch“. Nur die Qualität des Diskurses gilt es zu verbessern.

Die erstaunliche Pointe: Fraenkel musste „weit reisen, um interessante Gespräche führen zu können“. Seit 16 Jahren lebt er in Montreal. Die multikulturelle Gesellschaft, auf die Kanada so stolz ist, hat ihn enttäuscht: „Ich habe mir eine viel lebendigere Diskussion vorgestellt.“ Das Prinzip der Nichteinmischung empfindet er als „langweilig“. Freilich: Ein friedliches Zusammenleben ist auch sein Ziel. Aber kein sprachloses Aneinander-vorbei-Leben. Seine „Alternative zur Laisser-faire-Haltung“: „Es ist besser, unangenehme Fragen zu benennen. Denn wenn man Dissens unterdrückt, kocht er wieder auf – auch in gewalttätiger Form.“

Für den Säkularen bleibt der Zweifel akut. Von Platon bis Hegel manifestierte sich in der Natur noch die göttliche Vernunft. „Aber das Universum, das die Wissenschaft heute beschreibt, bietet keinen Trost mehr.“ Bei einem Besuch im Planetarium mit seiner Tochter, erzählt Fraenkel, fühlte er sich „klein und ohne Bedeutung“. Was nutzt es, nach der Wahrheit zu streben, wenn man in der Trostlosigkeit landet? Mit dieser Frage befasst sich Fraenkel derzeit. „Mit Platon in Palästina“ bot eine neue Form von Hoffnung. Vielleicht bietet sein nächstes Buch eine neue Form von Trost.

ZUR PERSON

Carlos Fraenkel, 1971 geboren, wuchs in Deutschland und Brasilien auf und ist Professor für Philosophie und Religion in Montreal. Eben erschienen ist sein Werk: „Mit Platon in Palästina“ (Carl Hanser Verlag). [ Carlos Fraenkel]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2016)

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