Die Kunst, sich zur Pflanze zu hungern

Statue von Franz Kafka
Statue von Franz Kafka(c) APA/AFP/MICHAL CIZEK (MICHAL CIZEK)
  • Drucken

Im fabelhaften Roman „Die Vegetarierin“ von Han Kang beginnt eine Frau eine verstörende Metamorphose. Hat Kafka sie inspiriert? Seine Geschichten über Verwandlung und Verlöschen prägten schon andere asiatische Autoren.

Zwischen Hund und Wolf“ hat man schon in der Antike für die Stunde der Dämmerung gesagt – in der man den Hund als Symbol für den Tag nicht vom Wolf unterscheiden kann, der für die Nacht steht. Es ist ein gefährlicher Übergang, Unheimliches, Einschneidendes kann einem passieren, das weiß jeder, der Kafka gelesen hat. Gregor Samsa merkt beim Aufwachen, dass er ein Ungeziefer ist, im „Prozess“ wird Josef K. am Morgen verhaftet, ohne zu wissen, wie ihm geschieht. Und im Roman „Die Vegetarierin“ der Koreanerin Han Kang trifft ein Mann am frühen Morgen seine Frau nicht im Bett, sondern in der Küche an – wie in Trance, umgeben von Unmengen auf dem Boden verstreuten Gefrierfleischs. Sie „enthielten Fonduefleisch, Schweinebauch, zwei Packungen Rinderfilets, Tintenfisch, Aal, den uns ihre auf dem Land lebende Mutter erst kürzlich geschickt hatte, gepökelten und mit gelben Fäden umwickelten Trockenfisch“. Eines nach dem anderen landet im Müll.

Man könnte meinen, vegetarische Ernährung habe auch in Südkorea längst nichts Außergewöhnliches mehr. Dem Roman der 45-jährigen Han Kang nach zu schließen sehr wohl. Und sich außerhalb der Norm zu bewegen ist in einer Gesellschaft, in der Konformismus als erstrebenswert gilt, gefährlich. „Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar“, bekennt der Mann zu Beginn des Romans – und ausgerechnet diese Frau, die er wegen ihrer Unauffälligkeit geheiratet hat, weigert sich nun nicht nur zu Hause, sondern auch vor seinen Kollegen und den Verwandten, Fleisch zu essen. Selbst als ihr herrischer Vater ihr in einer grausig-grotesken Szene Fleisch in den Mund zu stopfen versucht.

„Und, ist es so schlimm zu sterben?“

Nicht nur hier drängt sich der Gedanke an Franz Kafka, den wohl berühmtesten Vegetarier der Literatur, und seine beängstigenden Vaterfiguren auf. Als der Roman in seiner englischen Fassung („The Vegetarian“) im vergangenen Herbst den Booker-Preis erhielt, fühlten sich gleich mehrere Kritiker bei der Lektüre an Kafka erinnert. Die Protagonistin hat offenbar beschlossen, sich in eine Pflanze zu verwandeln, und scheint mit dem Fleisch nicht nur eine Lebensart, sondern eine ganze Lebensform, ja das Leben in seiner menschlichen Form zu verweigern. Ihre Metamorphose, die sie immer dünner und schwächer werden lässt, hält sie still entschlossen und fast ohne Erklärung (bis auf „Ich hatte einen Traum“) durch. Nur aus Sicht von Mann, Schwager, Schwester erfährt man über sie. Einer ihrer wenigen Sätze steht fast am Ende des Buchs, als sie ihre besorgte Schwester fragt: „Und, ist es so schlimm zu sterben?“

Ihre Beharrlichkeit erinnert an Kafkas sich zu Tode hungernden Hungerkünstler, der am Ende den eigentlichen Grund seiner Hungerkunst verrät: „Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.“ Han Kangs Protagonistin ist keine Künstlerin, aber sie wird selbst zu Kunst. Seit Jahren schwebt ihrem Schwager aus ihm selbst unerfindlichen Gründen ein Werk vor, auf dem ein mit Pflanzenbildern bemaltes Paar sich liebt; mit seiner verwandelten Schwägerin glaubt er den Traum verwirklichen zu können. Er ist der Einzige, der Verständnis für sie aufbringt.

Hat Han Kang bewusst an Kafka gedacht? Die Frage ist gar nicht so wichtig, Kafka könnte sogar nur indirekt gewirkt haben, zum Beispiel über die Bücher eines Japaners. Viel mehr als auf Haruki Murakamis Roman „Kafka am Strand“ (japanisch „Kafuka“, weil der Name sonst unaussprechbar ist), dessen Bezüge zu Kafka marginal sind, hat dieser auf den 1993 verstorbenen Abe Kōbō gewirkt. Der in Tokio geborene und in der Mandschurei aufgewachsene Autor begann mit Rilke-artigen Gedichten und veröffentlichte 1962 kurz nach seinem Austritt aus der japanischen Kommunistischen Partei den Roman „Die Frau in den Dünen“.

Ein Lehrer und Insektensammler kommt darin in eine einsame Gegend; als es dunkel wird, übernachtet er in einem Haus, das in einem Sandloch steht und ständig vom erodierenden Boden bedroht ist. Am nächsten Tag ist die Strickleiter entfernt, und er kann nicht mehr heraus. Wie sich herausstellt, ist er zur Zwangsarbeit verurteilt und muss fortan immerfort den Sand wegschaufeln. „Das konnte doch nicht möglich sein“, denkt sich der Mann ganz ähnlich wie JosefK. im „Prozess“: „Konnte man einen ordentlichen Menschen, der ins Familienregister eingetragen war und einen Beruf ausübte, der Steuern zahlte und in einer Krankenversicherung war, wie eine Maus oder ein Insekt in eine Falle locken und dort festhalten?“ Und er ruft dem Nebel am Rand des Sandlochs zu: „Hohes Gericht! Bitte, teilen Sie mir den Inhalt der Anklage mit. Lassen Sie mich die Begründung des Urteils hören!“ Irgendwann wird ihm erlaubt zu gehen, aber er bleibt in den Dünen, wo er sich nun zu Hause fühlt.

Buddha trifft auf Kafka

Unverkennbar ist in dem damals international viel gepriesenen und übersetzten Werk der Einfluss des Existenzialismus und Kafkas, den Abe Kōbō geliebt hat. Bemerkenswert im Hinblick auf Han Kang ist, dass derselbe Autor auch mehrere Erzählungen veröffentlicht hat, die von Kafkas „Verwandlung“ mitinspiriert scheinen und sich um merkwürdige Metamorphosen drehen. In „Dendrocacalia“ etwa findet sich der Protagonist als seltene Pflanze im botanischen Garten wieder, in „Die Känguruhhefte“ wacht ein Mann morgens auf und entdeckt, dass Radieschen aus seinen Beinen wachsen. Immer kreisen diese Verwandlungserzählungen um Selbstentfremdung und den Verlust der menschlichen Identität sowie die Emanzipation vom „normalen“ Leben.

„Die Vegetarierin“ ist vor diesem Hintergrund auch eine Einladung, den „asiatischen“ Kafka zu entdecken. Dass er sich buddhistischen Vorstellungen von Verwandlung und Verlöschung so gut anverwandeln lässt, bestätigt auch wieder, wie viel dieser Autor der ganzen Welt zu bieten hat.

BUCHTIPP: „DIE VEGETARIERIN“

Han Kang, geb. 1970, ist die Tochter des südkoreanischen Autors Han Seung-won. Sie wuchs ab ihrem elften Lebensjahr in Seoul auf und studierte koreanische Literatur. „Die Vegetarierin“ (Aufbau-Verlag) gewann in England den mit 50.000 Pfund dotierten Man Booker International Prize.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.