So schmerzhaft wie ein Berg Ameisen

Willkommen Oesterreich mit Stermann & Grissemann
Willkommen Oesterreich mit Stermann & GrissemannORF
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Der Moderator und Kabarettist Dirk Stermann hat seinen dritten Roman geschrieben. Der deutsche Österreicher zeigt dabei zum ersten Mal seine melancholisch-traurige Seite.

Plötzlich ist seine Mama weg. Sie lebt in einer fernen Welt und wohnt doch nur auf der anderen Seite der Wohnung. Das Leben des 13-jährigen Claude Raupenstrauch wird von einem Tag auf den anderen ziemlich auf den Kopf gestellt. Schon das Schopenhauer-Zitat, das dieser Geschichte vorangestellt ist, verheißt nichts Gutes: „Es ist heute schlecht, und wird nun täglich schlechter werden – bis das Schlimmste kommt.“ Claudes Mutter also, von Beruf Ethnologin, hat beschlossen, dass sie nicht mehr mit seinem Vater, dem Posauenlehrer, zusammenleben will. Darum zieht sie in der gemeinsamen Wohnung eine Trennwand auf und übersiedelt mit Claudes jüngerem Bruder und ihrem neuen Liebhaber auf die andere Seite der Wohnung. Und will von Erstgeborenem und Exmann nichts mehr hören und sehen.

Claudes Teenagerleben war allerdings auch so schon schwer genug. Die Reichenkinder im Nobelprivatgymnasium Theresianum verprügeln ihn, weil er weit unter ihrem sozialen und monetären Stand ist. Vielleicht hat er sich deswegen ein etwas befremdliches Hobby gesucht: Er ist Experte für die Geschichte der Todesstrafe. Das versteht und akzeptiert nur sein erwachsener Freund Dirko, der die Nationalitäten und Pässe wechselt wie andere Hemden, dafür aber Meister im Geschichtenerzählen ist. Er kutschiert Claude mit seinem Taxi durch die Stadt und trainiert ihn im Kickboxen.


Patchworst und Waschsalat. Dirk Stermann lässt auch in diesem, seinem dritten Roman keine Gelegenheit aus, um skurrile-surreale Begebenheiten, originelle Wortspielereien und blumige Sprachbilder einzubauen. Köpfe hämmern hier nicht einfach, sondern sie hämmern so wie „Bauarbeiter, die eigentlich den neuen Berliner Flughafen errichten sollten“. Aus Patchwork wird „Patchworst“. Salat wird in der Waschmaschine getrocknet („Waschsalat“). Und die Großmutter heißt Innere Oma, weil sie in der Innenstadt lebt.

Wer Dirk Stermanns Texte aus Kolumnen, Romanen wie dem Bestseller „Sechs Österreicher unter den ersten fünf“ oder Kabarettprogramme kennt, weiß, dass bei ihm das Komische stets sehr nah beim Tragischen liegt. Doch zum ersten Mal erzählt der seit gut 30Jahren in Österreich lebende Deutsche eine herzzerreißende, ernste Geschichte. Ohne dabei kitschig zu sein.

Dieser eigenwillige und ernsthafte Claude wächst einem schnell ans Herz. Bald ziehen beide Eltern aus der einstigen Familienwohnung aus, der nun schon 14-Jährige lebt fortan dort allein und schlägt sich durch den Jugendalltag. Inklusive Schulwechsel, erster, zarter Romanze und dreier chinesischer Mitbewohner. Doch die nächste und schlimmste Katastrophe lässt nicht lang auf sich warten.

Dirk Stermann ist jetzt also auch Autor. Allein seine Dauerpräsenz an der Seite von Kompagnon Christoph Grissemann in der ORF-„Dienstagnacht“, auf heimischen Kabarettbühnen und in der Werbung ließ Skepsis aufkommen, als er sich vor einigen Jahren auch noch ans Romaneschreiben wagte. Man fragt sich mitunter immer noch, woher der Mann die Zeit und die Ideen für die vielen Projekte nimmt, die er ständig anstößt. Doch man muss ihm zugestehen, dass er mit „Der Junge bekommt das Gute zuletzt“ richtig im Prosa-Fach angekommen ist.

Dieses Buch ist traurig und lustig zugleich, sorgfältig komponiert und schafft trotz der nicht zu leugnenden Dominanz des ständigen Sprachwitzes etwas, was nicht vielen Büchern dieses Genres gelingt: dass einem die Figuren kaum auf die Nerven gehen. Nur Taxifreund Dirko redet etwas zu viel.

Insgesamt wartet Stermann mit vielen kleinen Details auf, die man erst nach und nach entdeckt. Dass zum Beispiel die Kapitelüberschriften eine Schmerzskala der unerträglichsten Insektenbisse ergeben, begreift man erst in der Mitte des Buches. Feuerameisen verursachen einen Schmerz der Stärke 1,2, die sogenannte 24-Stunde-Ameise liegt schon bei 4+. Nichts gegen die Schmerzfähigkeit der Hauptfigur. Aber dafür muss man bis zum Schluss lesen.
Der Autor stellt den Roman am 23. Oktober um 20 Uhr im Wiener Theater Rabenhof vor. Tickets: 15 Euro.

Neu Erschienen

Dirk Stermann
„Der Junge bekommt das Gute zuletzt“
Rowohlt Verlag
224 Seiten
20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2016)

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