Warum regt uns Elfriede Jelinek so auf?

Elfriede Jelinek, 1973
Elfriede Jelinek, 1973(c) Friedrich/ picturedesk.com
  • Drucken

Die Nobelpreisträgerin wird heute 70. Sie hat ein enorm vielfältiges Werk geschaffen, in einer äußerst wandelbaren Sprache, die nicht loslässt, so sarkastisch wie auch ironisch-menschlich ist.

Eine distinguierte Dame aus dem zum Teil vornehmen Wiener Bezirk Penzing schreibt ein Theaterstück über Flüchtlinge, das 2014 in Mannheim uraufgeführt wird. Der Text ist einfühlsam, anspruchsvoll, ihre Sprache kennt das Heutige, das Bürokratische, die Slogans, allerlei Spielarten von Beschwichtigung und Empörung. Die Autorin ist mit Traditionen vertraut, das antike griechische Drama dient als Paradigma, sie streut auch großzügig Anspielungen auf die dunkle Philosophie des Seins ein, spielt mit Vielschichtigkeit in dem chorisch angelegten Stück „Die Schutzbefohlenen“.

Das ist doch nicht provokant, oder? Idealistisch vielleicht, fordernd wie manches von Schiller, oder auch hoffnungslos romantisch und formal zugleich manieristisch. Ein schönes Kunstwerk eben. Zwei Jahre nach der Uraufführung wird das Drama im April 2016 im Audimax der Universität Wien gebracht. Identitäre stürmen wie Aktionisten den Saal und wollen die Aufführung sprengen, bespritzen die Anwesenden mit Kunstblut. Es kommt zu Auseinandersetzungen, zu Körperverletzungen. Ähnlich gespenstische Szenen wiederholen sich wenig später während einer Vorstellung des Stücks im Burgtheater. Rechtsextreme werfen vom Dach Flugblätter ab, entfalten ein Transparent: „Heuchler“. Sie wollen die Autorin offenbar mundtot machen. Sie sind gegen „illegale Einwanderer“.

Menschenjagd auf FPÖ-Plakaten

Warum entzündet sich solch ein Streit ausgerechnet an Elfriede Jelinek, die heute vor 70 Jahren im steirischen Mürzzuschlag geboren wurde, an einer vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin, die mit der Sprache so souverän umgeht wie nur wenige andere? Es scheint in der österreichischen Literatur der Gegenwart beinahe Brauch zu sein, dass ihre Besten allgemein angefeindet werden. Das war bei Thomas Bernhard so, der es allerdings mit seinen virtuosen Angriffen auf die sogenannte Heimat auf Konfrontation angelegt hatte. Das ist auch beim erlesenen Peter Handke so, sobald er sich auf das mörderische Feld der Politik begibt, so wie beim Sprachartisten Josef Winkler, der Auseinandersetzungen nicht scheut. Aber Frau Jelinek? Deren Name vor gut 20 Jahren auf FPÖ-Plakate gezerrt wurde, wie bei einer Menschenjagd? Ausgerechnet diese im Privaten so diskrete Dichterin, die sich der Öffentlichkeit inzwischen fast völlig entzieht, die sich in ihre gesellschaftliche Kritik stets einbezieht, mit großer Ironie und ungeheurem Sprachwitz, die sich selbst nicht ausnimmt, wenn sie ungeschützt Wahrheit verbreitet?

Ein simpler Grund wäre: Sie ist eine kluge Frau. Das genügt offenbar bei verschwitzten Populisten ebenso wie bei jenen brachialen Großkritikern des Feuilletons, die aufgeheult haben, als Jelinek 2004 den Nobelpreis erhalten hat. Sie verweigern sich schlicht ihrer offensichtlichen Komplexität. Tatsächlich hat sich die Autorin vor allem in den frühen Romanen und Dramen mit drängenden Frauenfragen beschäftigt, wie etwa in „Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften“, das Henrik Ibsens Stück fortsetzt. Aber sie brachte sogar das Kunststück zusammen, dass professionelle Feministinnen irritiert auf sie reagierten. Wie gesagt, Elfriede Jelinek nimmt niemanden von ihrer Gesellschaftskritik aus. Ihrem Spott wird man nicht entgehen. Ihr Werk ist es, das eine offene Wunde bleibt.

Das Werk – ein starker Textstrom

Lassen wir also von Erklärmustern ab, die das Provokante in der Person suchen, in der familiären Prägung, in der früh zur Musik gedrillten Künstlerin, in einer Leitfigur, in einer Ikone der Avantgarde, in ihrer politischen Exponiertheit. Jelinek trat der KPÖ bei, als das längst nicht mehr Mode war, und auch wieder aus, als es gar nicht mehr nötig war. Die Schriftstellerin mag zurücktreten hinter das Werk, es spricht für sich, als starker Textstrom, der in einer enormen Zahl an Romanen (fast ein Dutzend), Dramen (drei Dutzend), in noch viel mehr Hörspielen und Essays, in Streitschriften, Libretti, Übersetzungen, Drehbüchern und Gedichten Ausdruck gefunden hat. Es spricht zu uns. Es erspart uns nichts.

Hinter der Verhüllung: das Eigentliche

Frau Jelinek ist sarkastisch, im Griechischen bedeutet das den Vorgang des Zerfleischens. Sie verbeißt sich in die Sprache, besonders gern, wenn diese roh ist, sie schüttelt sie und lässt die Wörter nicht mehr los. Bis auf die Knochen legt sie den Sinn frei. Sie spielt mit den Bedeutungen, eignet sich zum Beispiel im Drama „Die Kontrakte des Kaufmanns“ den Jargon von Börsianern und Politikern an, wendet die Worte, bis hinter der Taktik der Verhüllung dieser Kontrahenten das Eigentliche offenbar wird. Am Ende solcher Tortur fragt man sich vielleicht in dieser „Wirtschaftskomödie“ völlig entfremdet und bang: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?“

Jelinek führt uns großes Welttheater vor. Sie ist eine barocke Meisterin antithetischer Verschränkung, erfindungsreich und wandelbar wie Proteus. Das regt uns an ihr so auf: dass sie die Menschen mittels Sprache durchblickt und dabei kritisch reflektierend auch nicht auf sich selbst vergisst. Sie ist zutiefst menschlich. Sonst könnte man es, um nur ein Beispiel zu nennen, kaum ertragen, sich den fantastischen Roman „Die Kinder der Toten“ einzuverleiben. Dieses Buch aus den traurigen Alpen ist eine einzige Zumutung. Es sollte uns noch lang bewegen.

BEDEUTENDE UND POPULÄRE WERKE

Von den Romanen Elfriede Jelineks waren „Lust“ (1989) und „Gier“ (2000) die Bestseller, als ihr Hauptwerk gilt jedoch „Die Kinder der Toten“ (1995). Dieser 667 Seiten starke Roman soll 2017 beim Steirischen Herbst filmisch-performativ inszeniert werden. „Die Klavierspielerin“ (1983) wurde 2001 von Michael Haneke verfilmt.

Großes Aufsehen erregten die Dramen „Rechnitz“ (2008 in München uraufgeführt) sowie „Die Schutzbefohlenen“ (2013 in Hamburg erstmals gelesen und 2014 in Mannheim erstmals gespielt). Legendär ist die Uraufführung von „Ein Sportstück“ am Burgtheater 1998 durch Einar Schleef, samt Chor haben mehr als 100 Darsteller mitgewirkt. Ein Meisterwerk: „Winterreise“ (UA München 2011).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.