Frankfurt ist ein düster umspülter Strand

19 10 2016 xcex Deutschland Frankfurt Messe Frankfurter Buchmesse 2016 Buecher Buchwand Messestan
19 10 2016 xcex Deutschland Frankfurt Messe Frankfurter Buchmesse 2016 Buecher Buchwand Messestanimago/Hartenfelser
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Janosch auf einem Bibel-Schuber und ein im Rollstuhl fliehendes syrisches Mädchen, virtuelle Buchhandlungen und verzweifelte türkische Autoren: Impressionen von einer künstlerisch verspielten, politisch dunklen Buchmesse.

Ein ruhiger Strand mitten im kalten Frankfurt, das tut gut. Leicht zittert das Meer und der Horizont, vor dem Bücher stehen, als würden sie aufs Wasser hinausschauen, oder als wäre es eine bunte Reihe von Strandsesseln. Nicht gleißend hell ist es an diesem Strand, sondern ganz dämmrig, auch das ist gut – da lässt es sich auf dem Liegestuhl besser Gedichte anhören. Oder das Strandgut anschauen, das Schriftsteller gestiftet haben, ein Plastik-Okapi, eine kleine Ente, ein alter Walkman; Dinge, die ihnen wichtig sind beim Arbeiten.

So gar nicht protzig, ja sympathisch minimalistisch wirkt das stille Herz des niederländischen und flämischen Ehrengastauftritts – der Pavillon. Aus einem fast 100 Meter langen Gaze-Stoffstreifen hat man Meer und Horizont gezaubert und damit das, was die Niederlande, Flandern und Deutschland verbindet: die Nordsee. Nicht nur hier spürt man die Hand des künstlerischen Leiters Bart Moeyaert, und dass er selbst ein Autor mit dem Wunsch ist, nicht aufzutrumpfen, sondern Geschichten zu erzählen, den Raum für Gefühle zu öffnen. Seit 25 Jahren besuche er die Messe, erzählte er, stets habe er am dritten Tag gedacht: „Was mache ich hier, so viele Bücher . . . so viele ekelhafte Dinge.“

Berühmte „Alte“ wie Cees Nooteboom

Flandern und die Niederlande können es sich auch leisten, entspannt in Frankfurt aufzutreten. Der deutschsprachige Markt war immer schon der wichtigste für den Literaturexport aus diesen Ländern. Und noch kein anderes Land konnte so viele deutsche Übersetzungen auf der Buchmesse präsentieren, über 200 sind es. Auch berühmte „alte“ Namen sind darunter, wie der 83-jährige Cees Nooteboom, der in Österreich und Deutschland sogar viel mehr gilt als in seiner Heimat. Für eine Lesereise sei er zu alt, sagt er, aber den Auftritt in Frankfurt wollte er doch miterleben. Für Auskünfte zur aktuellen Politik ist er kaum zu haben. „Bis zu welchem Alter muss man sich um die Welt kümmern?“, fragt er denn auch in seinem wundervollen Inseltagebuch „533 Tage“.

Politik wälzen hier ohnehin die Deutschen. Während der Ehrengast erfinderischer Verspieltheit huldigt, überschatten sonst die Zensurmaßnahmen und Inhaftierungen in der Türkei die Messe. Viele Verleger und Schriftsteller hier erzählen, dass sie mit Kollegen und Autoren in der Türkei gut bekannt oder befreundet sind. „Hier in meinem Land lässt man mit einer unvorstellbaren Rohheit das Gewissen verkommen“, heißt es in einem Brief der Autorin Aslı Erdoğan aus dem Gefängnis, der zur Eröffnung der Messe vorgelesen wurde. „Wir versuchen ständig mit ihr in Kontakt zu kommen, auch mit ihrer Mutter habe ich telefoniert“, erzählt die Schriftstellerin Elif Shafak der „Presse“. Der ehemalige Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, ist in den Hallen hier mit Personenschützern unterwegs. In der Türkei ist er im Mai wegen Verrat von Staatsgeheimnissen zu fast sechs Jahren Haft verurteilt worden, seit Juli ist er im deutschen Exil. In Untersuchungshaft schrieb er sein Buch „Lebenslang für die Wahrheit“, das nun auf Deutsch erschienen ist. Detailliert beschreibt Dündar darin das „Staatsgeheimnis“: geheime Waffenlieferungen der Türkei an islamistische Milizen in Syrien. Kurios: Während Dündar sich in seiner Heimat nicht frei bewegen kann, kann sein Buch es sehr wohl, es ist dort ohne Weiteres erhältlich. Die Saudis sind übrigens heuer ferngeblieben, nicht aus politischen Gründen – zumindest nicht offiziell.

Die schönste Geschichte dieser Messe

Das Flüchtlingsthema ist natürlich ebenfalls präsent; unter anderem mit der vielleicht schönsten, ermutigendsten Geschichte, die hier auf der Messe gelesen werden kann – weil sie wirklich geschehen ist. Im Rollstuhl ist die an Kinderlähmung leidende 17-jährige Nujeen Mustafa von Aleppo bis nach Köln geflüchtet. In ihrer Heimat ging sie wegen ihrer Behinderung nicht zur Schule, war so gut wie immer zuhause. Im Buch „Flucht in die Freiheit“ erzählt sie, wie sie das Mittelmeer im Schlauchboot durchquerte, von ihrer Angst, die anderen Passagiere könnten ihren Rollstuhl ins Wasser werfen. Und doch, sagt sie, habe sie die Flucht nach ihrem monotonen, abgeschiedenen Leben in Aleppo auch als Abenteuer erlebt. Und habe plötzlich selbst helfen können, durch ihr beim Fernsehen erlerntes Englisch. Jetzt geht sie in Köln zur Schul, und betreibt Rollstuhlbasketball.

Zwei Schweizer Teenager und Literaturbloggerinen eilen aufgekratzt zum abendlichen Empfang des Fischer-Verlags; und in einer virtuellen Buchhandlung schmökert es sich richtig heimelig. Blogger haben ebenso natürlich einen eigenen Bereich wie das Self-Publishing, und an verschiedensten Stellen genießen Leute mit 3-D-Brillen Literatur in der Virtual Reality. Der Stand des Suhrkamp-Verlags wirkt richtig klein, dafür besetzt Randomhouse fast ein halbes Geschoß. Aber das vielleicht Erstaunlichste ist die soeben erschienene revidierte Luther-Bibel: Da prangt eine Sonderedition mit Schuber – von Janosch, dem antiautoritären, religionskritischen Kinderbuchrebellen der Siebzigerjahre, illustriert. Die Welt dreht sich wirklich gar nicht so langsam in Frankfurt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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