Elif Shafak: "Morgen werden andere unterdrückt"

Frankfurter Buchmesse International Book Fair Frankfurt 2016 Gast Elif Shafak bzw Elif Safak
Frankfurter Buchmesse International Book Fair Frankfurt 2016 Gast Elif Shafak bzw Elif Safak(c) imago/Manfred Segerer
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Shafak über die gefährlichen Dinnerdiskurse türkischer Bürger in ihrem neuen Roman, über ihre inhaftierten Freunde, die Einsamkeit der türkischen Demokraten – und über Sicherheitsnadeln als Frauenwaffe.

Die Presse: Seit Monaten werden mit Ihnen bekannte und befreundete türkische Autoren und Journalisten verhaftet. Stimmt Sie irgendetwas zuversichtlich?

Elif Shafak: Zunächst muss ich betonen, dass ich den Putsch für eine schreckliche Sache halte, die ich scharf verurteile . . .

Ihre Ablehnung des Putsches ist allgemein bekannt. Fühlen Sie sich denn so verdächtigt, dass Sie es ständig betonen müssen?

Ja, ich muss es betonen. Heute kann in der Türkei jeder schnell Verräter genannt werden und muss sich dann rechtfertigen. Eine Million Menschen sind direkt davon betroffen. In einem Rechtsstaat gelten Menschen als unschuldig, solang nicht ihre Schuld bewiesen wird, bei uns ist es umgekehrt. Klarerweise bin ich kein AKP-Fan, aber die AKP wurde demokratisch gewählt, die Gülen-Verschwörung in der Armee nicht. Ich kritisiere sie sehr, aber ich kritisiere auch die Säuberungen danach. Menschen, die nichts mit dem Putsch zu tun hatten, werden stigmatisiert.

Sind Sie mutlos geworden?

Im Moment sind wir, ich meine die türkischen Demokraten, sehr demoralisiert, sehr müde. Die türkische Politik ist so rücksichtslos und maskulinistisch, und die negative Entwicklung passiert so rasch, schon seit Jahren. Wir fühlen uns sehr vergessen und alleingelassen. Der Deal zwischen EU und Türkei in der Flüchtlingsfrage gab auch vielen Demokraten das Gefühl, dass die Themen Meinungsfreiheit und Demokratie für Europa nicht oben auf der Agenda stehen und einfach beiseitegeschoben wurden.

Kennen Sie viele inhaftierte Autoren und Journalisten persönlich?

Natürlich, es sind ja über 130 Journalisten in Haft, dazu Schriftsteller, Wissenschaftler. Meine gute Freundin, die Autorin Asli Erdoğan etwa, die Brüder Mehmet und Ahmet Altan, oder die Linguistin und Intellektuelle Necmiye Alpay, von der wir Schriftsteller so viel gelernt haben! Sie kennt alle Nuancen der türkischen Sprache. Mit fast 70 Jahren sitzt sie jetzt im Gefängnis, weil sie für eine prokurdische Zeitung gearbeitet hat. Es ist für mich unerträglich, dass eine Friedensaktivistin der Gewalt bezichtigt wird!

Fanden Sie die Türkei-Berichterstattung der vergangenen Wochen in westlichen Medien angemessen?

Die Menschen im Westen schenken der türkischen Politik und den Politikern viel Aufmerksamkeit, achten aber wenig auf die Kultur und die Psyche der türkischen Gesellschaft. Wir müssen verstehen, was für ein vielschichtiges Land die Türkei ist, müssen mit möglichst vielen Menschen sprechen. Literatur ist ein exzellentes Werkzeug dafür.

Literatur ist eher das Werkzeug einer Elite. Glauben Sie, dass Autoren wie Sie die so unterschiedlichen Stimmen, auch jene der Erdoğan-Anhänger, verständlich machen?

In meinen Büchern bemühe ich mich bewusst, den Marginalisierten eine Stimme zu geben. Die Türkei ist nun einmal tief gespalten, der Anteil der Erdoğan-Anhänger und -Kritiker in der Türkei ist fast gleich groß. Ich respektiere natürlich auch die Wahlurne. Wahlen allein machen zwar eine Herrschaft der Mehrheit, aber noch keine Demokratie, wie die AKP glaubt. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung, Pluralismus, freie Medien – diese Prinzipien sind für mich nicht verhandelbar. Ohne sie kann eine Gesellschaft nicht glücklich werden. So trifft die Unterdrückung heute eine Gruppe, morgen eine andere, und kein Ende ist absehbar.

Haben Sie kein Verständnis für Menschen, die einen „eigenen“ Weg zwischen liberaler Demokratie und Diktatur fordern?

Ich wollte mein Buch eigentlich „Das lange Dinner der türkischen Bourgeoisie“ nennen, denn darin werden bei einem Abendessen genau diese Diskurse gewälzt. Tatsächlich sagen das immer mehr in der Türkei. Ich finde es sehr gefährlich. Überall auf der Welt verlieren Menschen derzeit den Glauben an die liberale Demokratie, in Russland, Pakistan, Singapur . . . Sorry, aber viele Europäer sind sich nicht bewusst, wie dramatisch das ist.

Einen „dritten“ Weg sucht die Heldin Ihres neuen Romans auf jeden Fall in der Religion. Ist Religion Ihnen wichtig?

Ich bin nicht gläubig, und ich mag keine organisierten Religionen, die die Welt in ein Wir und ein Ihr einteilen. Ich interessiere mich nur sehr für die Möglichkeit eines Gottes, für die individuelle, nach innen gerichtete Reise, die den Glauben befragt und zugleich den Zweifel wertschätzt. Deswegen fühle ich mich Agnostikern ebenso nahe wie Mystikern aus Ost und West. Am Dualismus zwischen absoluter Religiosität und absolutem Atheismus will ich mich nicht beteiligen, ich bin gegen jede Art von Absolutismus.

In Ägypten hat sich eine weibliche Protestbewegung gegen sexuelle Belästigung gebildet. Fehlen Ihnen starke feministische Initiativen in der Türkei?

In Ägypten ist es natürlich noch viel schlimmer, aber ja, Frauen müssten definitiv auch in der Türkei eine starke Bewegung aufbauen, die fehlt uns. Jede türkische Frau weiß, dass die Straßen den Männern gehören. Beim Busfahren nehmen wir zum Beispiel eine Sicherheitsnadel mit . . . Ich bin es überhaupt leid zu hören, wie männliche Macho-Politiker hier das Leben und die Körper der Frauen zu kontrollieren versuchen. Nie habe ich eine türkische Politikerin sagen hören, Männer sollten in der Öffentlichkeit nicht laut lachen, oder sie sollten fünf Kinder haben.

Sie wuchsen bei Ihrer Mutter und Ihrer Großmutter auf. Wie steht Ihre Mutter heute zu Ihrem Schreiben? Sie berühren ja viele, auch sexuelle Tabus.

Sie unterstützt mich sehr, obwohl sie sich am Anfang wegen der Themen Sorgen machte. Erzählt in der Türkei eine Schriftstellerin von Themen wie Vergewaltigung oder Inzest, denken die Leute automatisch, sie schreibt ihre eigene Geschichte. Uns Frauen traut man keine Fantasie zu. Wenn ein Mann dasselbe macht, heißt es: „Klar, das ist Fiktion!“

ZUR AUTORIN


Siehe auch Bericht auf Seite 3.Elif Shafak gehört zu den bekanntesten türkischen Autoren, schreibt auf Englisch und Türkisch, lebt in Istanbul und London. Ihr neuer Roman, „Der Geruch des Paradieses“ (Kein-und-Aber-Verlag), erzählt von Peri, Türkin und ehemalige Oxford-Studentin, die sich zwischen Tradition und Moderne zerrissen fühlt, und ihren – auch spirituell – eigenen Weg sucht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2016)

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