Ilse Aichinger: Nicht schön, nicht glänzend – präzise!

Wien 2002 Ilse AICHINGER Schriftstellerin
Wien 2002 Ilse AICHINGER Schriftstellerin(c) imago/SKATA (imago stock&people)
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Nachruf. Die Dichterin Ilse Aichinger suchte nie den Schock, aber sie fand ihn – überall: Am Freitag ist sie, kurz nach ihrem 95. Geburtstag, in Wien gestorben.

Natürlich war ihr Wesen nicht an Äußerlichkeiten festzumachen: Aber Ilse Aichinger, 1921 geboren, musste wohl jedem, der ihr begegnete, wie der Inbegriff einer Dichterin erscheinen. Mädchenhaft bis ins hohe Alter, mit einem selbstvergessenen Lächeln und einer leisen Stimme. Einnehmend, in jedem Fall. Ein bißchen entrückt – vielleicht.
Ob sie mit dieser Beschreibung einverstanden gewesen wäre? Sicher ist: Gegen den Begriff Dichterin hat sie sich wiederholt verwahrt. Eine Poetin – nein, das wollte sie nicht sein. „Was man unter Poesie versteht, ist so eine Art Wolkengebilde. Die Vorstellung, dass alles möglichst schön gesagt werden soll“, meinte sie einmal im Gespräch mit der „Presse“. Dieses Schöne war ihr ein Graus. Ehrlich sollte sein, was sie schrieb. Und vor allem genau. Nicht im Sinne von detailverliebt, sondern von kompromisslos. Von radikal.

„Die größere Hoffnung“

Ilse Aichinger wollte sich nicht ablenken lassen, und sie duldete kein Wegsehen. Damit stieß sie wohl manchen vor den Kopf. Nicht, weil sie den Schock suchte – sondern weil sie ihn fand. Überall, wo Vereinfachungen uns die Sicht verstellen, wo wir uns mit einer harmlosen Existenz begnügen, wo die Menschen sich in Hierarchien fügen. Auf die Frage der „FAZ“, welche militärische Leistung sie am meisten schätze, antwortete sie einmal: „Die genaue Vorstellung zu haben, was ein Bauchschuss ist. Bevor er einen trifft.“ Grausam. Wahr.

Ilse Aichinger ist in Wien als Tochter einer jüdischen Mutter aufgewachsen. Ihre Großmutter und die Geschwister ihrer Mutter wurden im Konzentrationslager ermordet. Ilse Aichinger überlebte. Ihr erstes Buch, „Die größere Hoffnung“, handelt davon. Es sollte ein Bericht darüber werden, was ihr und anderen Kindern – jüdischen und vom NS-Regime so genannten halbjüdischen – in diesen Jahren des Nationalsozialismus widerfahren war. Ein Bericht? Es wurde Prosa, die einen wie das Grauen packt – oder wie die Hoffnung. Die Hoffnung wird enttäuscht. Und es ist ein Kind, das hofft. Man möchte verzweifeln!

Der 1948 erschienene Roman begründete Ilse Aichingers schriftstellerischen Ruhm. Warum er nicht als Klassiker gilt? Vielleicht, weil er nicht passen will in eine Welt, die an das Machbare glaubt?

Ellen, das Alter Ego Ilse Aichingers, stirbt, als wir sie schon gerettet glauben.

Die Dichterin freilich hat den Nationalsozialismus überlebt. Sie hat sogar eine – fast – bürgerliche Existenz gesucht. Ilse Aichinger war fast zwei Jahrzehnte lang mit dem Schriftsteller Günter Eich verheiratet und hat zwei Kinder geboren. Eine Tochter und einen Sohn – Clemens Eich, ebenfalls Dichter. Ihr Mann kam 1972 ums Leben. 1998 verlor sie ihren Sohn durch einen Unfall. Und 2004 starb ihr lieber Freund und Begleiter, Richard Reichensperger – ebenfalls an den Folgen eines Sturzes.

Aber nicht aus diesem Grund hielt Ilse Aichinger ihr Überleben nie für einfach. Diese privaten Schicksalsschläge schienen zurückzutreten hinter eine große Befürchtung: „Dass man sich selbst in Sicherheit gebracht hat. Man hat das Gefühl, man könnte sich arrangiert haben.“

Jenseits des Wortgeklingels

Ist es zu viel der psychologischen Deutung, wenn man meint, ihre Skepsis, ihr scharfer Blick sei darin begründet? „Die größere Hoffnung“ blieb Ilse Aichingers einziger Roman. Die kleine Form ist ihr präziser erschienen. Mit der „Rede unter dem Galgen“ und der „Spiegelgeschichte“ festigte sie ihren literarischen Ruhm als Dichterin jenseits des Wortgeklingels. Aichinger erlaubte ihrer Sprache nicht, zu triumphieren, und sie ihrerseits triumphierte nicht über die Sprache. Die Erzählung „Die schlechten Wörter“ (1979) liest sich da wie ein ästhetisches Programm: eine Ehrenrettung jener Wörter, die nicht gleißen, nicht glänzen: Aichingers Sprachkritik war nicht verspielt. Sie war nicht übermütig und niemals überheblich. Sondern behutsam und – ja: demütig. Immer weniger schrieb sie, immer kürzere Texte, bis sie in den letzten Jahren ganz verstummte.

Sie wird uns fehlen. Sie fehlt uns ja jetzt schon.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2016)

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