Im Land, in dem Dan Brown fast J. K. Rowling rempelt

(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Lesen Goethe-Freunde wirklich so gern Mankell? Und Thomas-Mann-Fans Michel Houellebecq? Über das Messen, Vorhersehen und Steuern von Lektürevorlieben im Web - von der verspielten Literature Map bis zum großen Datengeschäft.

Was tun, wenn man nicht recht weiß, was man als Nächstes lesen soll? Früher vertraute man gern auf das, was das Deutsche mit dem schönen Wort Gespür bezeichnet. Man ging zu den guten Geistern in den Buchhandlungen und Büchereien, denen man vertraute, erzählte kurz und ließ sich dann beraten: Was könnte ich als Nächstes lesen? Die so Befragten hatten keine Daten zur Hand, aber berufliche und literarische Erfahrung, ihr Gespür dafür, was einem Leser gefallen könnte, der „Malina“ von Ingeborg Bachmann oder den neuen Köhlmeier gemocht hatte. Eine schöne Aufgabe, bei der nicht nur die Vertrautheit mit Büchern, sondern auch eine gewisse Menschenkenntnis half.

Das gibt es auch heute noch. Aber seit das Internet so viele Daten über unser Kaufverhalten liefert, sind Lektürevorlieben so messbar geworden wie noch nie. Und bis zu einem gewissen Grad auch vorhersehbar wie das Verhalten von Menschen in der U-Bahn oder die Reaktionen auf Werbebotschaften. Auch wenn viele Liebhaber der Literatur das für viel zu seelenlos halten und ohnehin überzeugt sind, dass sie am besten wissen, was sie lesen wollen: Die Datenmassen erlauben es, das Leserherz zu vermessen, sie liefern völlig neue spannende Statistiken und Wahrscheinlichkeiten: Wer das und das liebt beziehungsweise kauft, liebt beziehungsweise kauft mit soundsovielprozentiger Wahrscheinlichkeit auch das und das . . .

Welche Schriftsteller einander in den Herzen der Leserinnen und Leser nahestehen, weiß man dadurch so gut wie nie zuvor. Für Psychologen und Literaturwissenschaftler ist dabei wohl die spannendste Frage, warum sie das tun. Den Buchmarkt und die Verlagswelt treibt eine ganz andere Frage um: Wie lässt sich das Wissen über Lektürevorlieben ökonomisch nutzen?

Empfehlungen machten Amazon groß.Nicht umsonst arbeiten Marktgiganten so intensiv an der Entwicklung von Empfehlungsdiensten. Die Videostreamingfirma Netflix initiierte bereits vor zehn Jahren den bisher größten wissenschaftlichen Wettbewerb in diesem Bereich, er war mit einer Million US-Dollar dotiert, 50.000 Bewerber konkurrierten. Für die Recherche in Bibliothekskatalogen gibt es das Programm BipTip, es wertet das Benutzerverhalten bei der Suche aus und empfiehlt Usern „verwandte“ Titel.

Den größten Empfehlungsdienst im Buchbereich hat natürlich Amazon, er ist dort in praktisch jeden Schritt des Such- und Kaufprozesses eingebaut und erhöht die Umsätze des Konzerns so sehr, dass dieser selbst ihn als seinen größten Markttrumpf bezeichnete. Was ein User bisher gekauft, was er in seinem virtuellen Einkaufswagerl und was er wie bewertet hat, wird in Verbindung mit den Daten der übrigen User gesetzt. Der Preis dafür ist der gläserne Kunde. Gute Empfehlungsmaschinen seien mit Privatsphäre nicht vereinbar, stellte Aleksandra Korolova von der Stanford University vor ein paar Jahren in einer Studie über Empfehlungsdienste fest. „Unsere Ergebnisse stellen stark infrage, dass es jemals Empfehlungsmaschinen geben wird, die gleichermaßen präzise sind und die Privatsphäre unangetastet lassen.“


Die Landkarte des Leserherzens. Der Deutsche Marek Gibney will kein Geschäft mit Leseempfehlungen machen, er hat seine Literature Map aus interesselosem Wohlgefallen gegründet. Auf der Seite kann man seinen Lieblingsautor eingeben – und dann sehen, welche anderen Autoren ihm im durchschnittlichen Leserherz am nächsten stehen. „Je mehr Leute einen und zugleich einen anderen Autor mögen, desto näher rücken diese zwei Autoren einander auf der Literaturlandkarte“, erklärt Gibney auf der Website seinen Gästen.

Probieren wir es also und geben Joanne K. Rowling ein – was passiert als Nächstes? Eine Oberfläche voller schwirrender Schriftstellernamen erscheint, ein paar Sekunden lang bewegen sie sich wie unschlüssig um die einzig ruhige Rowling herum. Dan Brown rempelt seine Kollegin fast an vor lauter Nähe, ruckelt aber noch ein bisschen umher, bis er wie alle übrigen den ihm gemäßen Platz gefunden hat und stillsteht. Gleich hinter ihm sieht man „Twilight“-Autorin Stephenie Meyer, nur eine Spur weiter entfernt die für ihre Vampirromane berühmte Anne Rice und den britischen Fantasy-Autor Philip Pullman („Der Goldene Kompass“). Etwas weiter weg, aber immer noch im engeren Umkreis, findet man englischsprachige Klassiker wie Agatha Christie, Roald Dahl, Edgar Allan Poe oder Jane Austen.

Warum bewegen sich die Namen überhaupt eine Zeit lang, bevor sie ihren endgültigen Platz finden? Das sei das „nicht lineare Optimierungsproblem“, erklärt Mark Gibney der „Presse“. „Jeder Autor weiß, welchen Abstand er gern von jedem anderen Autor hätte. Schon bei nur drei Autoren wäre es nicht möglich, diese Wünsche genau zu erfüllen, es sind nur Annäherungen möglich. Ich werfe also alle betreffenden Autoren auf den Bildschirm, jeder guckt sich um und kümmert sich um seinen bestmöglichen Platz. Wenn er sich nicht mehr bewegt, heißt das, besser geht's nicht mehr.“

Gibneys Landkarte der Lesevorlieben beruht auf seinem Literaturempfehlungssystem Gnooks, und das wiederum ist ein Teil von Gnod, einem von Gibney vor über zehn Jahren ins Leben gerufenen, mehrere Bereiche umfassenden Empfehlungssystem. Begonnen habe es mit Musik, erzählt Gibney. „Am Anfang kannte das System keine einzige Band außer meiner eigenen, es hat in der ersten Zeit zu Chopin Metallica vorgeschlagen. Ganz langsam ging's bergauf, und jetzt wird die Seite heiß geliebt, sie hat über 200.000 Besucher im Monat. Das Schönste für mich ist, dass die Leute nicht nur kurz vorbeischauen, sondern viel Zeit hier verbringen.“

Gibneys System beruht auf den Angaben der User über ihre drei Lieblingskomponisten und -bands bzw. Lieblingsautoren. Je mehr Daten einlangen, desto aussagekräftiger die Ergebnisse. Musik ist mit Abstand die meistbenutzte Sektion, deswegen liefert sie die verlässlichsten Empfehlungen – auch wenn sie mit den größten Musikempfehlungsdiensten wie Spotify oder Apples iTunes-Programm nicht vergleichbar ist. Der Vorteil und Nachteil zugleich an Gnod: Es beruht nicht auf dem Such- und Kaufverhalten, sondern allein auf Userangaben.


Jelinek nah an Anton Tschechow. Auch Gibneys Literaturdienst Gnooks wird viel genutzt, ebenso wie seine Literature Map. Dieser Landkarte der Autorenvorlieben zufolge hat Elfriede Jelinek keinen wirklich engen Nachbarn, aber einige in respektvollem Abstand: Handke, Borchert, Bachmann, Robert Walser, aber auch Tschechow, Harold Brodkey und Hubert Fichte. Dafür findet sich Philip Roth von gleich drei berühmten Kollegen so eng umschnürt, dass es aussieht wie eine eingeschworene Viererbande: John Updike, Saul Bellow und Julian Barnes.

Dass der Großteil der bücherinteressierten Gäste auf dieser englischsprachigen Plattform nicht aus Deutschland oder Österreich stammen dürfte, beginne ich zu vermuten, als ich es mit weiteren deutschsprachigen Schriftstellern versuche. Wer wohnt in den Leserherzen, sagen wir, gleich neben Thomas Mann? Das Ergebnis ist eindeutig: Stefan Zweig. Der Zweitnächste ist nicht ganz so erwartbar, es ist Thomas Bernhard. Auch Marcel Proust und Robert Musil sind gar nicht weit, fast ebenso wenig Martin Walser – und: Michel Houellebecq.

Houellebecq und Thomas Mann – wie soll man das nun deuten? Man könnte interessante Schlüsse daraus ziehen, etwa über konservative europäische Leser, die sich für Geschichten vom Niedergang interessieren (in „Buddenbrooks“ den einer Familie, in Houellebecqs jüngstem Roman „Unterwerfung“ den des christlichen Abendlandes). Doch für weitreichende Schlüsse scheinen die Eingaben zu deutschsprachigen Schriftstellern zu wenig repräsentativ.

Auch dass Goethe-Fans sehr gern Henning Mankell lesen, bezweifle ich ein wenig. Ich beschließe also, mein Datenscherflein beizutragen und gebe auf gnooks.com drei Lieblingsautoren ein: Kafka, Kleist und Thomas Mann. Gnooks fragt mich daraufhin, ob seine Annahme stimme, dass mir auch Camus, Huxley, Orwell, Juli Zeh und Hesse gefallen. Gar nicht so schlecht. Ich verneine nur bei Hesse.


Freiwillige und unfreiwillige Daten. Man kann sich auf der Literature Map lang spielen, dieser anregenden Spielerei eines Computerfreaks. Doch weil sie auf freiwilligen Angaben beruht, ist sie mit unvergleichlich weniger Daten gefüttert als die Systeme von Marktgiganten, die das Verhalten von Millionen Nutzern seit Jahren ungefragt durchleuchten. Diese Schwäche hat auch die Empfehlungsseite Book Yap, die neue User ausführlich zu ihren Lesegewohnheiten und ihrer Persönlichkeit befragt. Wer Book Yap aber öfter benutzt, stellt fest, dass auch die Empfehlungen immer besser werden.

Auch Amazons Empfehlungssystem spiegelt freilich nur bedingt reale Leservorlieben. Dass das Datensammeln mit dem Geschäft des Empfehlens verknüpft wird, manipuliert die Statistik: Was auf ihrer Grundlage empfohlen wird, bekommt mehr Aufmerksamkeit, wird eher gekauft. So werden bestehende Trends verstärkt.

Dennoch könnten Amazons Datenschätze unglaublich viel verraten, würden sie der Forschung zur Verfügung stehen. Etwa darüber, welchen Gesetzmäßigkeiten Lesevorlieben folgen. Wie ähnlich oder unähnlich dieser und jener Schriftsteller wirkt. Und warum Menschen in der Welt der Bücher lieben, was sie lieben. ?

Surfen durchs Leserherz

Die Literature Mapgibt mithilfe von gesammelten Userdaten Auskunft, welche Autoren einander in den Leserherzen nahestehen. Gibt man etwa Handke ein, „stellen“ sich weitere Autoren rund um ihn – am nächsten jene, die von den meisten Handke-Fans ebenfalls geliebt werden: literature-map.com.

Gnooks liefert die Daten dafür. Das Programm fragt den User nach drei Lieblingsautoren und liefert ihm daraufhin Vermutungen über weitere Autorenvorlieben – die er jeweils bestätigen oder verneinen kann: Gnooks.com.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.