"Die Nazi-Jagd war eine schlichte Idee"

Eva Mozes Kor
Eva Mozes Kor(c) Stanislav Jenis
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Eva Mozes Kor war Versuchskind von Dr. Mengele in Auschwitz und erlebte dort den Tod ihrer Eltern. Heute zieht sie den Zorn anderer Überlebender auf sich, weil sie die „Macht des Vergebens“ empfiehlt. Jetzt auch in einem Buch.

Die Presse: Würden Sie auf der Straße Dr. Mengele treffen, schreiben Sie in Ihrem Buch „Die Macht des Vergebens“, würden Sie von ihm wissen wollen, was er Ihnen in Auschwitz alles injiziert hat – aber Sie hätten keinen Hass. Sie erzählen hier vom Vergeben, als könnte es jeder, wenn er nur wollte. Für die meisten aber ist das wohl äußerst schwer nachzuvollziehen.

Eva Mozes Kor: Gut, dann frage ich Sie: Würde jemand Ihre ganze Familie ermorden, und Sie wären die einzige Überlebende, was wären dann Ihre Möglichkeiten für den Rest Ihres Lebens? Sie können ja Ihre Familie nicht wieder zum Leben erwecken. Als ich entdeckte, dass ich eine einzige Möglichkeit übrig hatte, um mein Leben zu verbessern, eine Möglichkeit, die gratis ist und niemandem wehtut, war das für mich eine unglaubliche Entdeckung! Zu sehen, dass ich nicht für den Rest meines Lebens leiden und ein Opfer bleiben muss! Als Opfer fühlt man sich verletzt, machtlos. Ich habe begriffen, dass mir nur eine einzige Macht bleibt. Und die habe ich eingesetzt.


Seit zwei Tagen ist das Urteil gegen den in Auschwitz tätigen SS-Mann Oskar Gröning endgültig rechtskräftig. Als Nebenklägerin ernteten Sie Empörung anderer Kläger, weil Sie ihm verziehen. Ein Foto zeigt Sie umarmt mit ihm ...

Auch Hitler und Himmler und Mengele, allen habe ich vergeben. Sich damit zu beschäftigen, wer mir was angetan hat, wird zu einer Buchhaltung, die eine gefährliche Falle für die Opfer ist. Es ist ein endloser Teufelskreis, ein Terrain, auf dem man nie gewinnen kann. Ich habe aber nur ein Leben, und das möchte ich so gut wie möglich leben! Zorn ist viel zu giftig für uns, und wir geben ihn auch an unsere Kinder weiter.


Beim Gröning-Prozess warfen Ihnen Überlebende vor, in ihrem Namen zu vergeben ...

Da sage ich, lest meine Aussagen! Vergeben ist ein ganz persönlicher Akt, ich habe es nur in meinem eigenen Namen gemacht. Der Hass der Opfer schadet am meisten den Opfern, das ist die Tragödie, die meine Mitüberlebenden nicht verstehen. Sie sagen: Wie kannst du nur den Nazis vergeben?! Ich sage darauf: Verdiene ich es nicht, frei zu sein? Seid ihr denn so glücklicher? Ich weiß nicht, warum sie sich durch mein Vergeben so gefährdet fühlen. Ich habe ja nie gesagt, dass sie es ebenfalls tun müssen, ich sage nur, dass ich selbst es getan habe und dass es mir hilft. Wenn sie sich von der Last befreien wollen, sollen sie es ebenfalls probieren, statt sich zu beklagen. Sie wissen ja nicht einmal, worüber sie sich beklagen, weil sie es nicht kennen!


In der jüdischen Tradition, schreiben Sie, sei Vergebung nur möglich, wenn der Täter vor einem kriecht und bereut ...

Ja, und diese Tradition ist aus einem ganz bestimmten Grund absoluter Unsinn: Ich, die Überlebende, soll auf die Reue des Täters warten? Das hieße ja schon wieder, ich gebe die Macht dem Täter! Ich will die Macht aber für mich, nicht für den Täter! Wenn mir Rabbis sagen, das ist jüdische Tradition, dann erwidere ich: Na, dann ändern Sie sie!


Und was sagen Sie zum Vorwurf, Sie würden damit den Tätern Verantwortung abnehmen?

Auch dazu habe ich beim Prozess gegen Gröning in Lüneburg klar gesagt: Die Tatsache, dass ich Ihnen, Oskar Gröning, vergebe, befreit Sie nicht von Ihren Verbrechen, Sie müssen die Verantwortung dafür übernehmen. Ich selbst will nur nicht Richter und Hinrichter sein, ich will mich selbst heilen.


Sie verkörpern mit Ihrem Zugang das Gegenteil von Simon Wiesenthal. Können Sie seiner „Nazijagd“ Sinn abgewinnen?

Nein, das ist eine sehr schlichte Idee. Auch wenn jeder einzelne Nazi gehängt worden wäre, hätte das an meinem Leben keine Spur geändert. Ich wäre immer noch ein elfjähriges Mädchen, das für Experimente verwendet wurde und seine Eltern verloren hat. Die Idee „Simon jagt Nazis“ schafft nur gute Fernsehprogramme.

Eva Mozes Kor
Eva Mozes Kor (c) Stanislav Jenis

Glauben Sie, dass Ihre Eltern einverstanden wären, dass Sie den Tätern vergeben?

Ganz sicher nicht. Aber mindestens bei meiner Mutter bin ich mir auch sicher, wenn sie hörte, dass es mich geheilt hat, ohne jemand anderem wehzutun – am Ende hätte sie es doch gutgeheißen.


Ernten Sie denn bei Überlebenden-Verbänden gar kein Verständnis?

Nein, sie sind gegen mich. Nur die zweite und dritte Generation hört zu. Ich habe mit vielen jungen Menschen geredet, die aus anderen Gründen innerlich zerstört sind, zum Beispiel weil sie keine liebevollen Eltern haben. Ich sage ihnen immer, dass sie eine Wahl haben. Junge Deutsche fühlen sich schuldig, weil ihre Großeltern Nazis waren – aber es ist nicht ihre Schuld, und Zeit darauf zu verschwenden, sich schuldig zu fühlen, hilft auch überhaupt niemandem.


Das Wort „Vergebung“ ist missverständlich, weil es sehr religiös konnotiert ist. Könnte auch das ein Grund für das viele Unverständnis sein?

Die Religion hat kein Monopol auf Vergebung. Allerdings haben Sie recht, ich denke tatsächlich über ein noch passenderes Wort nach, das Freiheit und Heilen beinhaltet. Ich habe es nur noch nicht gefunden.


Nach dem Krieg hassten Sie zunächst Ihre Eltern, schreiben Sie. Wofür?

Ich sagte zu mir: Ich, die Zehnjährige, war klüger als die großen Erwachsenen, ich habe überlebt, warum sie nicht! Die Menschen, die mich beschützen sollten, beschützten mich nicht. Jedes Kind, das als Waise aufwächst und nichts mehr hat, was es Zuhause nennen kann, kennt das wohl. Meine Eltern logen auch, dass Hitler uns nichts tun würde. Sie wollten damit das Beste, aber das war es nicht. Meinen Kindern erzähle ich deshalb immer die Wahrheit, in altersgemäßer Art. Nach 9/11 habe ich zwei Mädchen geschrieben, deren Eltern bei den Anschlägen umgekommen sind: Es wird eine Zeit kommen, in der ihr eure Eltern hasst. Aber ihr werdet darüber hinwegkommen und zu ihrem Andenken etwas tun, auf das sie stolz sein würden.


Ihr persönliches Konzept des Vergebens deckt sich sehr mit der Erkenntnis von Psychologen, dass es zu den heilendsten Gefühlen überhaupt zählt.

Ein Freund von mir ist Sohn eines Auschwitz-Überlebenden und Psychologe. Er nützt mein Video, auf dem ich über Mengele rede, um seine Patienten zum Nachdenken über Vergebung zu bringen.

''Die Macht des Vergebens''

Eva Mozes Kor, geboren 1934, wurde als Zehnjährige mit ihrer Zwillingsschwester nach Auschwitz deportiert, heute lebt sie in den USA. Sie leitet dort das Candles Holocaust Museum und Education Center und tritt für Vergebung als Form der Selbstheilung ein. „Die Macht des Vergebens“ ist im Benvenuto Verlag erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.11.2016)

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