„Saudis sind die größten Disney-Fans weltweit“

 Mathias Énard
Mathias Énard(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Sein Ost-West-Roman „Kompass“ spielt zwischen Wiener Alsergrund, Schloss Hainburg, Damaskus und Istanbul und erhielt den Prix Goncourt, nun wird Mathias Énard auch in Deutschland geehrt: „Die Presse“ traf ihn in Wien.

Palymra und die Porzellangasse, hier sind sie einander ganz nah: Wenn der sterbenskranke Wiener Musikwissenschaftler Franz Ritter in einer schlaflosen Nacht noch einmal seine Forschungsreisen nach Istanbul, Damaskus oder Aleppo durchlebt – und seine Liebe zur berühmten Orientalistin Sarah. Wie einst Doderer mit der „Strudlhofstiege“ bringt der Franzose Mathias Énard den Wiener Alsergrund zu literarischen Ehren, mit seinem ebenfalls ausufernden Roman „Kompass“ („Boussole“). In seiner Heimat wurde er dafür mit dem wichtigsten Literaturpreis ausgezeichnet, nun erhält er, wie am Montag bekannt wurde, auch den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2017: Énard gebe seinen Lesern „einen von großer menschlicher Anteilnahme geprägten Blick in den arabischen Kulturraum“. Mit der „Presse“ sprach er über Begegnungen mit dem Fremden im Osten – bei orientbegeisterten Europäern des 19. Jahrhunderts und in Zeiten von Flüchtlingsströmen.

Die Presse: Unter Europas bekannten Autoren sind Sie ein Exot, Sie beherrschen ausgezeichnet Arabisch. Wie kam das?

Mathias Énard: Ich studierte in Paris Kunstgeschichte, und die Kunst des Islam hat mich besonders interessiert, meine Professorin sagte, da müssen Sie eine Sprache aus der islamischen Kultur lernen. Da ich mich zwischen Arabisch und Persisch nicht entscheiden konnte, habe ich beides gemacht, und war absolut begeistert. Ich ging nach Kairo, in den Iran, nach Syrien, in den Libanon. Insgesamt war ich fast zehn Jahre weg.

Syrien-Krieg, IS – die Gegenwart klingt im Roman, der vor allem in das orientbegeisterte Europa des 19. Jahrhunderts zurückführt, nur spärlich an. Hat die politische Entwicklung zur Romanidee beigetragen?

Nein, ich wollte schon seit Langem einen Roman über die Orientalistik, über die vergangenen Beziehungen zwischen Ost und West schreiben.

Wie kam dabei Wien ins Spiel?

Ich brauchte einen Ausgangspunkt für die Reise nach Osten, und es gab ja auch lange das Bild von Wien als „Porta Orientis für Europa“, wie Hofmannsthal geschrieben hat. Außerdem war sie eine Hauptstadt der Musik in Europa. So war Wien fast unausweichlich. Außerdem liebe ich es, wollte sogar einmal hier leben. Ich liebe das österreichische Deutsch und die österreichische Literatur, Joseph Roth und Thomas Bernhard gehören zu meinen Lieblingsautoren.

Franz, der Vorname Ihres Helden, hat mit Franz Joseph zu tun, erfährt man. Die Bezüge zum Habsburgerreich sind überhaupt auffallend stark, warum?

Mich fasziniert diese zum Deutschen Reich ganz gegensätzliche Idee eines Reichs voller ethnischer Vielfalt, Sprachen, Religionen, auch mit einer gewissen Toleranz gegenüber den Minderheiten wie im Osmanischen Reich. Das ist für mich einer der spannendsten Bereiche der europäischen Geschichte. Auch heute haben wir die Frage, wie man Zentralität und Diversität verbindet.

Eine zentrale Rolle spielt der österreichische Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall. Hatte er wirklich, wie bei Ihnen, mit fast allen Größen seiner Zeit Umgang?

Ja, er war ein Netzwerker, der alle kannte. Kaum einer weiß auch, dass er ein Freund von Balzac war, der ihn in Wien besucht hat.

Das Wort „Orientalismus“ ist heute sehr negativ besetzt – zum Teil zu Unrecht?

Der Orientalismus war mit der Kolonialherrschaft verbunden, aber nicht nur deren Komplize. Die Bilder vom ganz Fremden rechtfertigten es, es zu dominieren, zugleich hat das Wissen der Orientalisten die europäischen Vorstellungen von jenen Kulturen fundamental verändert. Es gibt außerdem nicht den europäischen Orientalismus. Bei den Engländern hatte er viel mit Indien zu tun, bei den Franzosen mit dem Maghreb, mit der Wüste, die Deutschen wieder waren sehr archäologisch ausgerichtet, biblisch, semitisch.

Zur Gegenwart liefert Ihr Roman ein paar provokante Aussagen. „Der Salafismus ist ein Disney-Film“ – was meinten Sie da?

Dass die Vergangenheit, zu der der IS zurückkehren will, genauso ein Fantasma ist wie die Orientbilder der Disney-Filme. Die Saudis sind übrigens die größten Disney-Fans weltweit! Sie lieben vor allem die alten Filme, weil die Frau dort zu Hause, niemand nackt und die zulässige Größe des Dekolletés genau festgelegt ist. Der amerikanische Puritanismus ähnelt ihnen.

Zeigt Ihr Roman nicht auch, dass man sich so weit ins ganz andere hinausbegeben kann, dass es gefährlich wird?

Ja, auch diese zerstörerische Seite gibt es. Man kann sich selbst dabei verlieren, manche sind dabei verrückt geworden.

Nervt es Sie, jetzt wegen Ihres Romans so oft über die politische Situation in Europa befragt zu werden?

Nein, es ist ja sehr verständlich. Die Menschen interessieren sich für mein Buch auch deswegen so sehr, weil all diese Dinge im östlichen Mittelmeerraum passieren. Sie stellen sich viele Fragen.

ZUR PERSON

Mathias Énard, geboren 1972 in Frankreich, studierte Arabisch und Persisch und lebte zehn Jahre im Nahen Osten. Im Roman „Zone“ (2008), der ihn international bekannt machte, ließ er einen Kriegsveteranen aus dem Jugoslawien-Krieg sprechen – in einem einzigen, 500 Seiten langen Satz. Danach folgten die Romane „Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten“ (2011) über einen Aufenthalt des Künstlers Michelangelo in Konstantinopel und „Straße der Diebe“ (2013) über einen jungen Marokkaner zur Zeit des Arabischen Frühlings. „Kompass“ (im Original „Boussole“) ist bei Hanser erschienen: 427 S., geb., 25,70 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2016)

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