Liao Yiwu: "Die Ameisen überleben, nicht die Menschen"

 „China ist in einem äußerst kritischen Zustand, was seine Überlieferung angeht“. Liao Yiwu erinnert in der Fremde an sie.
„China ist in einem äußerst kritischen Zustand, was seine Überlieferung angeht“. Liao Yiwu erinnert in der Fremde an sie.(c) Ali Ghandtschi/S. Fischer
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"Die Presse" traf Schriftsteller Liao Yiwu im Berliner Exil. Er sprach über Chinas Kulturverlust, die Kraft der Ameisen, die Freiheit des Flötenlehrers, den skurrilsten Preis seines Lebens - und über seinen fabelhaften ersten Roman.

Ein chinesischer Band mit Gedichten von Paul Celan liegt im Wohnzimmer, und eine chinesische Langflöte – auf der Liao Yiwu zwischen dem Quieken seiner kleinen Tochter Töne hervorzaubert, die einen stumm machen vor Staunen. So kann es einem auch mit dichterisch betörenden Passagen in „Die Wiedergeburt der Ameisen“ gehen – dieser schalkhaften, für westliche Ohren wilden Mischung aus autobiografischen Episoden, Volksmythen und kommunistischer Zeitgeschichte. Es ist der erste Roman des durch Bücher wie „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ längst in Deutschland berühmten Autors. Fünf Jahre ist es her, dass er China verließ, wo er nicht mehr publizieren durfte und vier Jahre im Gefängnis war: Begegnung in der Berliner Vorstadt.

Die Presse: Ihr Alter Ego, Romanheld Lao Wei, will im Gefängnis aus dem „Buch der Wandlungen“ seine Zukunft lesen. Glauben Sie an die prophetische Kraft dieses ältesten chinesischen Klassikers?

Liao Yiwu: Wenn man sich in einer scheinbar ausweglosen Lage befindet, kann es sinnvoll sein, nach Zeichen zu suchen, wie es weitergehen soll. Allerdings sind die Erklärungen sehr dunkel. Aber die Beschäftigung mit dem Orakel hat mich als politischen Gefangenen zur entscheidenden Erkenntnis gebracht: Die Freiheit liegt einzig in dir selbst.

Das weiß auch Lao Weis Mithäftling, der ihn das Flötenspiel lehrt – mit dem Sie sich in China zeitweise auf der Straße durchgeschlagen haben . . .

Den gab es wirklich, er hat mich einer Art Gehirnwäsche unterzogen, mir gesagt: „Stell dir vor, wir sind alle im Gefängnis, dieses hier ist nur sichtbar. Die einzige Freiheit ist die innere.“ Er hat mich sehr beeinflusst, dank ihm habe ich auch wieder angefangen zu schreiben. Was er mir erzählt hat, halte ich für ein Gesetz des Himmels.

Im Roman ist viel vom Willen des Himmels die Rede. Wie passt das zur rebellischen Natur Ihres Alter Ego, das sich gar nicht mit den Verhältnissen abfindet?

Der Wille des Himmels ist ein zentraler Begriff der chinesischen Philosophie. Er kann Rebellion unterstützen. Steht man als Einzelner vor dem Staatsapparat, erscheint man machtlos wie eine Ameise. Spürt man aber den Willen des Himmels hinter sich, dann wirkt der Machtapparat plötzlich recht klein.

„Die Wiedergeburt der Ameisen“ heißt Ihr Roman, Sie nennen auch Ihre in Deutschland geborene kleine Tochter so, „kleine Ameise“. Kommt die Sympathie für dieses Getier aus Ihrer Kindheit?

Ja, als ich ein Kind war, war ich oft allein, also habe ich gern die kleinen Tierchen beobachtet, unter anderem auch die Ameisen, da konnte ich stundenlang zuschauen. Später ist mir bewusst geworden, dass in den angeblich Kleinen, Schwachen auch etwas sehr Starkes liegt. Wenn der Lauf des Himmels diesen Kreaturen die Existenz erlaubt, müssen sie ihre eigene Kraft haben. Deshalb habe ich im Buchtitel etwas sehr Mächtiges – die Wiedergeburt, mit der es mir sehr ernst ist – und etwas sehr Kleines kombiniert. Am Ende sterben die Menschen beim Dammbruch aus, die Ameisen überleben.

Der Roman ist voller Mythen, über Urkaiser, Hexen, mächtige Ahnen. Sind Sie mit solchen Geschichten aufgewachsen?

Meine Familie lebte auf dem Land, ich war acht, als die Kulturrevolution begann, sie hat viel Tradition zerstört, aber in den entlegenen Gegenden lebte der Volksglaube ungestört weiter. Heute gibt es ihn kaum noch, die kommunistische Herrschaft hat die eigene Tradition abgeschnitten. China ist jetzt in einem sehr kritischen Zustand, was die eigene Überlieferung betrifft. Aber ich glaube, wenn die Menschen ein Bedürfnis danach spüren, können sie sie wiederbeleben.

Sie waren vier Jahre inhaftiert, war das der schlimmste Teil Ihres Lebens?

Damals habe ich es so empfunden, im Gefängnis zu sitzen war für mich das Zweitschlimmste nach dem Erkranken an Krebs. Im Nachhinein sieht die Sache für mich anders aus. Alles, was ich geworden bin, verdanke ich dem Gefängnis. Dort habe ich angefangen zu schreiben, es hat mich zu einem Schriftsteller gemacht. In China sagt man nicht umsonst, um ein guter Schriftsteller zu werden, muss man drei Dinge erlebt haben: Man muss in Haft gesessen haben, eine Scheidung erlebt und durch eine staatliche Behörde gefeuert worden sein.

Von Mo Yan, der 2012 den Literaturnobelpreis erhielt, halten Sie ja nicht viel . . .

Er ist ein Kulturfunktionär der Partei, ich mag gar nicht über ihn reden. Seine ganze Haltung hat er gezeigt, als er Chinas Zensur mit Sicherheitskontrollen auf dem Flughafen verglich: unangenehm, aber halt notwendig . . .

Gibt es in China überhaupt nicht verfolgte Schriftsteller, die Sie schätzen?

Doch, einen gibt es – aber halt, so weit ich weiß, ist er auch schon im Gefängnis gesessen, und geschieden und gefeuert worden (lacht).

Seit 2011 sind Sie in Deutschland, was war das Schwierigste am neuen Leben im Exil?

Die Angst, in fremdsprachiger Umgebung nicht mehr schreiben zu können. Mein Roman hat mir gezeigt, die Fremde ist kein Hindernis. Da sieht man wieder, die Freiheit liegt in einem selbst. Übrigens habe ich hier soeben den kuriosesten Preis meines Lebens bekommen, vom ehemaligen Stasi-Gefängnis und jetzigen Museum in Hohenschönhausen. Als Freunde mir das sagten, machten sie aus dem Gefängnismuseumsdirektor einen Gefängnisdirektor, es klang absolut unglaublich! Vor einigen Tagen träumte ich dann, dass mir ein chinesischer Gefängnisdirektor einen Preis verliehen hat . . .

In China dürfen Ihre Bücher nicht erscheinen, die deutsche Übersetzung ist die bislang einzige offiziell publizierte. Sie muss ungeheuer schwer gewesen sein . . .

Die Übersetzerin Karin Betz hat drei Jahre gearbeitet, war am Ende völlig erledigt, hat aber nicht aufgegeben und es doch geschafft. Die englische Ausgabe sollte gleichzeitig erscheinen, das passiert aber erst 2017. Dem Übersetzer, einem ehemaligen Mitgefangenen von mir, ist eine Scheidung dazwischengekommen.

ZUR PERSON

Liao Yiwu wurde 1958 in Sichuan geboren, wuchs arm auf, arbeitete als Koch und Lastwagenfahrer und begann als junger Mann zu dichten. Wegen des Gedichts „Massaker“ (1989) über die Ereignisse auf dem Tian'anmen-Platz war er vier Jahre im Gefängnis, danach schlug er sich u. a. als Straßenflötist durch. Seine Bücher durften (und dürfen) in China nicht erscheinen, 2011 wurde ihm auch verboten, im Ausland vorzutragen oder zu veröffentlichen. Liao Yiwu floh daraufhin nach Deutschland. Dort erhielt er 2012 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. „Die Wiedergeburt der Ameisen“ (572 S., 28,80 Euro) ist bei S. Fischer erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2016)

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