"Presse"-Krimikritiker Peter Huber hat aus der Flut der Neuerscheinungen zehn außergewöhnliche Kriminalromane ausgewählt.
16.12.2020 um 10:33
"Die Presse"-Krimikritiker Peter Huber stellt die zehn besten Krimis und Thriller vor, die 2016 (auf Deutsch) erschienen sind. Die erstaunlichste Leistung des Autors Iain Levison ist es, dass sein futuristisch klingendes Gedankenlese-Szenario ausgezeichnet in das Gewand eines klassischen Kriminalromans passt. Am meisten Spaß machen aber die alltäglichen Szenen, in denen klar wird, dass Gedankenlesen auch ein Fluch sein kann. Iain Levison: "Gedankenjäger", übersetzt von Walter Goidinger, Deuticke, 304 Seiten, 19,60 Euro.
(c) Deuticke Verlag
Mit "Am Ende eines öden Tages" spielt der Italiener Massimo Carlotto seine Qualitäten voll aus. Man muss seine Hauptfigur Pellegrini nicht mögen - das fällt auch denkbar schwer - um zu erkennen, dass der Autor einen selten authentischen Einblick in die düstere Welt eines Berufskriminellen gewährt, der seine Wurzeln auch dann nicht verleugnen kann, als er endlich ein "bürgerliches" Leben führt. Abstoßend und anziehend zugleich porträtiert er Pellegrini, ohne diesen eiskalten Kerl hochzustilisieren. Das hat schon Klasse. Darüber hinaus zeichnet er ganz nebenbei auch noch ein wenig schmeichelhaftes Sittenbild eines durch und durch korrupten Landes. Sauber zu bleiben, scheint hier nicht einmal eine Option zu sein. Massimo Carlotto: "Am Ende eines öden Tages". Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, Katharina Schmidt und Barbara Neeb, 381 Seiten, 15,40 Euro.
(c) Tropen
1953 war die Apartheid in Südafrika noch jung. Malla Nunn nimmt den Leser auf eine packende Zeitreise mit. Detective Sergeant Emmanuel Cooper wandelt selbst ständig auf Messers Schneide, weil er ein "unreines" Verhältnis bzw. Kind hat. Gleichzeitig muss er in einem Fall ermitteln, in dem schon bald klar ist, dass der verdächtige schwarze Jugendliche nicht der Täter sein kann. Doch wie dessen Unschuld beweisen, wenn der korrupte Polizeiapparat gegen dich arbeitet? Nunns Kriminalromane sind vor allem fesselnde Geschichtsstunden. Malla Nunn: "Zeit der Finsternis", übersetzt von Laudan & Szelinski, Ariadne Kriminalroman, 304 Seiten, 13,40 Euro.
(c) Ariadne Kriminalroman
Matthew Scudder ist Ex-Cop und Alkoholiker, der aber einen nüchternen Blick auf die Welt behalten hat. Nun liegt mit dem im Original erstmals 1976 erschienenen "Die Sünden der Väter" Band eins der Scudder-Reihe endlich wieder vor. Aber nicht, weil sich endlich ein Verlag gefunden hätte, sondern weil sich der Autor mit dem Übersetzer Stefan Mommertz zusammengetan hat und das Buch nun selbst als E-Book und Paperback herausbringt. Geplant ist, die 17 Bände umfassende Scudder-Reihe erstmals vollständig auf Deutsch herauszubringen. Block sind bei diesem außergewöhnlichen Akt der literarischen Selbstverteidigung viele Leser zu wünschen. Lawrence Block: "Die Sünden der Väter". Übersetzt von Stefan Mommertz. Eigenverlag, 193 Seiten, 10,99 Euro.
(c) Eigenverlag
Die titelgebende "Miss Terry" heißt eigentlich Nita Tehri, aber ihr Nachname wird meist falsch ausgesprochen. Nita ist eine beliebte Lehrerin, deren Leben vollkommen aus den Fugen gerät, als ein totes Baby mit dunkler Hautfarbe in einem Container vor ihrem Haus gefunden wird. Ab sofort sieht sich Nita mit Beschuldigungen und Verdächtigungen konfrontiert. Lizy Cody hat einen einfühlsamen Krimi über Rassismus und Vorurteile geschrieben, ohne dabei je anklagend zu werden. Dennoch ist dieses Buch zutiefst optimistisch - eine wahre Kunst angesichts der drückenden Thematik. Liza Cody: "Miss Terry". Übersetzt von Martin Grundmann, Ariadne Kriminalroman, 320 Seiten, 17,50 Euro.
(c) Ariadne Kriminalroman
Kaum ein anderer deutschsprachiger Autor versteht es so gut, klassische Polizeikrimis mit zeitgenössischen, brisanten Themen zu verknüpfen. Eckert hat eine beängstigende, weil realistische Interpretation der Geschehnisse rund um den Tod von zwei NSU-Mitgliedern geschrieben, die Zweifel an der offiziellen Version nährt. Horst Eckert: "Wolfsspinne", Wunderlich Verlag, 489 Seiten, 20,60 Euro.
(c) Wunderlich Verlag
Mit dem knallharten Berufsverbrecher Wyatt hat Garry Disher einen australischen Cousin von Richard Starks Kultfigur Parker erfunden. Nun wechselt der Autor die Seiten und erzählt langsam, aber niemals langweilig, vom Schicksal des ins Hinterland abgeschobenen Polizisten Hirsch. Diesem schlägt dort offene Feindseligkeit entgegen, es herrscht Perspektivlosigkeit. Seit Hirsch in Adelaide einen korrupten Kollegen verraten hat, ist er auch in seinem Berufsleben einsam. Der Autor ist ein Meister staubtrockener Geschichten, die dennoch unweigerlich ans Herz gehen. Garry Disher: "Bitter Wash Road", übersetzt von Peter Torberg, Unionsverlag, 344 Seiten, 22,60 Euro.
(c) Unionsverlag
Der gebürtige Vorarlberger André Pilz ist wohl einer der meistunterschätzten deutschsprachigen Krimiautoren. Das mag daran liegen, dass er Geschichten von Skinheads, Drogendealern und wie nun in "Der anatolische Panther" von vorbestraften, türkischstämmigen Kleinkriminellen schreibt. Alles in allem ist die Lektüre keine übliche Underdogüberhöhung, sondern ein mit Sympathie für seine Figuren erzählter Kriminalroman, verknüpft mit einer wunderbar altmodischen Liebesgeschichte. Tarik und seine Begleiter bleiben über die Lektüre hinaus haften. André Pilz: "Der anatolische Panther", Haymon Verlag, 472 Seiten, 12,95 Euro.
(c) Haymon Verlag
Als die Nazi-Größe Reinhard Heydrich nach einem Attentat im Juni 1942 stirbt, werden Vergeltungsmaßnahmen beschlossen. Das kleine tschechische Dorf Lidice wird dem Erdboden gleichgemacht, alle männlichen Einwohner werden getötet. Nur wenige Monate später schreibt der Brite Gerald Kersh über das Schicksal des fiktiven Dorfs Dudicka, deutlich als Lidice erkennbar. Nun ist dieses außergewöhnliche, sehr einfühlsame Buch erstmals auf Deutsch zu lesen. Zu verdanken ist das dem Kleinstverlag Pulp Master, der mit Akribie unbekannte Krimiperlen aus der literarischen Versenkung holt. Gerald Kersh: "Die Toten schauen zu", übersetzt v. A. Laina/A. Müller, Pulp-Master-Verlag, 227 Seiten, 13,20 Euro.
(c) Pulpmaster
1992 kam es nach der Misshandlung des Schwarzen Rodney King zu den größten Rassenunruhen in der Geschichte von L.A. Der Autor Ryan Gattis erzählt nun eine fesselnde Geschichte, die in jenen 121 Stunden spielt, in der auf den Straßen Gesetzlosigkeit herrschte. Jeder Kleinkriminelle nutzt die Gunst der Stunde, Gang-Mitglieder erkennen ihre Chance, die Karten neu zu mischen: Offene, alte Rechnungen werden beglichen, die Machtverhältnisse verschoben. Insgesamt kommen 17 Ich-Erzähler zum Einsatz - immer einer nach dem anderen, wodurch auch der Lesefluss nicht behindert wird. Durch diesen Wechsel der Perspektive entsteht ein unglaubliches Panorama. Ryan Gattis glänzt mit purem Realismus. Ryan Gattis: "In den Straßen die Wut". Übersetzt von Ingo Herzke, Rowohlt Polaris, 526 Seiten, 17,50 Euro. Zum Krimiblog "crimenoir" von Peter Huber.
(c) Rowohl Polaris
Top 10: Die besten Krimis 2016
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