„Post“ sagt, wer nicht weiß, was Faktum ist

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2016 erlebte den Hype um die Wörter „post-truth“ und „postfaktisch“. Ihr Präfix machte schon die Rede von der Postmoderne so beliebt: Es verschleiert, dass man die Gegenwart nicht beschreiben kann – außer als diffuses Danach.

Da irrte man sich 2016 also, als man dachte, man lebe längst im Postpostismus. In Zeiten, die sich nicht diffus im Verhältnis zu dem definieren, was sie nicht mehr sind – und damit den Verdacht erwecken, dass sie nicht fähig sind zu sagen, was sie sind. Vorbei die Postmoderne, jenes Wort, mit dem der Hype anfing; vorbei die postindustrielle Gesellschaft, der Poststrukturalismus, die Post-History, der Postkolonialismus, der Postkommunismus, der Postkapitalismus und so weiter. „Das Gespenst des Postismus“, das der Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß in den Achtziger Jahren im Umlauf sah, geisterte damals lang genug umher und begleitete noch die Neunzigerjahre, bevor es allmählich verblasste.

Doch siehe da, Ende 2016 kam das Präfix „post“ zu neuen Ehren, als die „Oxford Dictionaries“ das „Wort des Jahres“ kürten: „post-truth“. Prompt wurde es als „postfaktisch“ auch im deutschsprachigen Raum heiß diskutiert, als Etikett für eine Konjunktur der Falschnachrichten, die u. a. mit dem Wahlkampf Donald Trumps in Verbindung gebracht wurde.

Ein Ziel jedenfalls haben die Redakteure des renommierten britischen Wörterbuchs erreicht: Sie haben eine intensive internationale Diskussion über die erfolgreiche massenhafte Verbreitung von (politischen) Lügen im Netz in Gang gesetzt, über den unkritischen Umgang damit und über die Frage, was die Politik, die Zivilgesellschaft und Firmen wie Facebook dem entgegensetzen können. Es steckt auch Witz darin, den dem Begriff der „Postmoderne“ innewohnenden Wirklichkeitsrelativismus, das Spiel mit der Realität, auf das Feld unverschämter Faktenmanipulation zu übertragen.

Das Wort vernebelt selbst das Faktische

Es hat auch eine – unfreiwillig – ironische Note: Ausgerechnet eine Theorie, die „Fakten“ nur als Konstrukte ansah, hält nun als begriffliche Patin für die Kritik am vermeintlichen Abschied von den „Fakten“ her. Man muss daraus nicht böswillig folgern, dass die Rede vom „Postfaktischen“ sich nur gegen nicht genehme Wirklichkeitskonstrukte richtet. Aber auch wenn es um die Bekämpfung eindeutiger Lügen geht, haben die Schlagwörter „post-truth“ und „postfaktisch“ wenig Nutzen, im Gegenteil.

Erstens vernebeln sie Dinge, wo genaues Benennen dringend gebraucht ist: Wer verbreitet wie Lügen? Und wie unterscheidet man zwischen Lügen und ideologisch unerwünschter Interpretation von Fakten? Zweitens suggerieren die Begriffe, dass vor unserem vermeintlichen „postfaktischen“ Epöchchen eine selige Zeit der von verantwortungsvollen Medien und Politikern verwalteten Faktentreue liegt – zumindest im Westen: Die „Post-Truth“-Ära wurde schon vor Jahren für die USA postuliert. Damals schon als Kritik an den Republikanern.

Diese nostalgisch rückwärtsgewandte Note hatten die frühen Postismen nicht. Die ersten Urheber des Wortes „postmodern“, das zum Vorbild für alle Postismen wurde, werteten damit die Gegenwart auf, deuteten sie als Überwindung der Vergangenheit. Der Maler John W. Chapman etwa, der den „modernen“ Impressionismus überwinden wollte, nannte 1870 seinen Stil „postmodern“; er beanspruchte, dem Wesen der Wirklichkeit näher zu kommen als die impressionistische Kunst des Flüchtigen. Der deutsche Philosoph Rudolf Pannwitz stellte 1917 in „Die Krisis der europäischen Kultur“ den „postmodernen“ Menschen als neues Ideal dar – sportlich, militaristisch, nationalistisch, „religiös erregt“. Auch wenn der Begriff kulturwissenschaftlich anfangs ein Verfallsphänomen bezeichnete (beim US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Irving Howe), machte er dann als positiver Begriff Karriere: als pluralistische Überwindung einer Moderne mit totalitärem Wahrheits- und Machtanspruch, als Ende der beherrschenden „großen Erzählungen“ (etwa der Aufklärung, des Idealismus).

Dass „postmodern“ in den vergangenen Jahrzehnten zu so vielen Neologismen angeregt hat, hat freilich ohnehin nicht so viel mit seiner exakten Bedeutung zu tun – die es nie gegeben hat, kaum ein kultureller Epochenbegriff ist so vieldeutig bis widersprüchlich verwendet worden. Das lateinische Präfix klingt intellektuell und wissenschaftlich. Zugleich enthebt es einen in Zeiten der von der Postmoderne diagnostizierten fehlenden „großen Erzählungen“ der Aufgabe, die Gegenwart zu definieren: außer durch das, was sie nicht mehr ist. Postkommunismus, Postkolonialismus und Postkapitalismus, Posthumanismus, Postfeminismus und Postsäkularismus, Postnationalismus und Postnationalsozialismus: Die Rede von der „postfaktischen“ Zeit, in der wir angeblich leben, setzt die Reihe als später Nachzügler fort. Sie scheint Orientierung zu geben – verrät aber vielmehr, dass man nicht weiß, wo man steht.

„Danach“: Die leere Zukunft

Man könnte meinen, wer etwas als „post“ definiert, zeigt historisches Bewusstsein. Das Gegenteil sei der Fall, argumentierte der deutsche Historiker Jörn Rüsen kürzlich in einem Beitrag im Onlineportal Public History Weekly. Geschichte könne helfen, die Gegenwart besser zu verstehen, doch „diese Orientierung löst sich auf, wenn das eigene Leben ,nach etwas‘ positioniert wird“. Dieses sei dann nur noch ein Überbleibsel, in dem etwas Vergangenes verloren sei. Auch Zukunft werde nicht mehr als etwas Verheißungsvolles, sondern nur noch negativ definiert. Es sei höchste Zeit, meint Rüsen, diesen „leeren Raum“ des „Nach-etwas-Seins“ zu verlassen.

Prägende „Postmoderne“

In „Das postmoderne Wissen“ stellte der französische Philosoph und Literaturtheoretiker Jean-François Lyotard 1979 die Moderne als gescheitert dar und erklärte das Ende der großen Denksysteme – die er als „Erzählungen“ bezeichnete; an deren Stelle treten Lyotard zufolge heterogene und widersprüchliche Sprachspiele. Auch der Poststrukturalismus und der damit verbundene Postkolonialismus haben zum Hype der Postismen beigetragen: Er prägte die 1980er- und 1990er und ebbte seitdem ab, bringt aber immer neue Nachzügler hervor, wie das „Postfaktische“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2016)

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