Artgenossen und andere

Personenstudien mit Vorbildern aus der Tierwelt: Eva Menasses neuer Erzählband.
Personenstudien mit Vorbildern aus der Tierwelt: Eva Menasses neuer Erzählband.(c) juergen-bauer.com (Juergen Bauer)
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„Tiere für Fortgeschrittene“ ist der Titel des neuen Erzählbandes von Eva Menasse, in dem doch die sonderbare Spezies Mensch und ihr großes und kleines Leid im Zentrum steht.

Mehrere Jahre lang hat Eva Menasse Berichte über Tiere gesammelt, von Meldungen über das Artverhalten bis hin zu eher kuriosen und Tierfreunde alarmierenden Agenturnachrichten wie der folgenden: „Immer wieder verfingen sich Igel in den Öffnungen von McFlurry-Eisbechern, die achtlos weggeworfen wurden. Die Tiere, die die Reste der Vanille-Eiscreme ausschleckten, bekamen den Kopf nicht mehr aus dem Plastikbehälter und verhungerten.“

Eva Menasse, Autorin der Romane „Vienna“ und „Quasikristalle“, nimmt mehrere Tiergattungen in ihrem neuen Erzählband als Ausgangspunkt für ihre literarischen Studien am Menschen. Ihr Tonfall ist von Ironie getragen, die Geschichten zeichnet die aufmerksame Beobachtung ihrer Forschungsobjekte aus.

In manchen Erzählungen steht tatsächlich die Verhaltensweise von Tieren Pate für das Gebaren der Protagonisten. In anderen Fällen kommt die Tiermeldung in der Story selbst als Szene vor: etwa in der Erzählung mit dem Titel „Igel“, an deren Beginn die oben angeführte Meldung zitiert wird. Menasse schildert hier den Alltag eines „auffallenden“ Paares, Thomas und (die jüngere, aber nicht mehr ganz junge) Micol, er ist ihr Beschützer, sie ist seine Herausforderung und Feuer. Bei einem Aufenthalt in Italien lernen die beiden ein Paar kennen, Max und Erika, und plötzlich findet Micol diesen Max ungemein anziehend.

Ein Gefühl, das jede/r kennt: Jemand taucht auf und bewirkt eine Gefühlsregung, die man unter keinen Umständen erwartet hätte. Micol verzaubern Max' Schilderungen: „Ein romantischer Retter von alten Häusern, im Gegensatz zu einem spöttischen Finanzjongleur? Sie hatte sich immer zu Thomas' Talent zu verbalem Fechten hingezogen gefühlt, denn dies schien ihr die richtige Distanz zu ihr selbst zu garantieren. Aber nun schlugen sie die poetischen Formulierungen dieses Fremden in den Bann.“ Am Ende gehen die Paare geordnet auseinander. Es gibt keine Tränen, keinen Skandal, keine Katastrophen – dafür wird an Micol beizeiten der Zweifel nagen, ob sie und Max damals nicht doch. . .
Was Paare aneinander bindet.
Die Zufälligkeit der Optionen ist ein Thema, das an mehreren Stellen wiederkehrt. Viele Geschichten kreisen um Paare, Beziehungskonstellationen und die Frage: Was hält die Menschen zusammen? In der Erzählung „Schmetterling, Biene, Krokodil“ kommt Tom, Mutter eines Buben und Stiefmutter zweier etwas älterer Geschwister, ins Grübeln, als ihr ihr Ehemann im Urlaub erklärt, alle Beziehungen seien letztendlich Geschäfte, Geben und Nehmen. „Tom schüttelt nur den Kopf. Sie wüsste gar nicht, wo anfangen mit ihrem grundsätzlichen Widerspruch.“

Doch je mehr sie über die Aussage nachdenkt, desto mehr beginnt auch Tom zu zweifeln. Im türkischen Ferienressort beobachtet sie andere Paare, etwa eine Schwedin und ihren Partner, deren Beziehung auf der Übermacht der Frau zu beruhen scheint. Wie kann das gut gehen, fragt sie sich?

Hier macht uns die Autorin auf etwas Wichtiges aufmerksam: Wir sehen immer nur einen Ausschnitt der anderen. Auch beim unmittelbaren Gegenüber ist das der Fall. Dass auch Tom in ihrem Perfektionsanspruch, der sich vor allem gegenüber der biologischen, intriganten Mutter der beiden Kinder ausdrückt, längst nicht alles über ihren Partner weiß, verstehen die Leser in mehreren Andeutungen: Da ist das oftmalige Verschwinden Georgs – einmal hält er gar ein Glas in der Hand, an dem unerklärlicherweise ein Lippenstiftabdruck zu sehen ist. Menasse klärt den Verdacht nicht, manches in ihren Storys wird nur angedeutet, die Schwere seiner Bedeutung bleibt der Interpretation der Leser überlassen.

„Tiere für Fortgeschrittene“ ist ein Buch, das seinen Figuren erfrischend viel Raum gibt. Sie sind trotz der aktuellen Thematiken, die in ihnen verhandelt werden – Patchworkfamilie, Demenz, Integration –, viel mehr als Exerzierobjekte. Viele der Protagonisten und der Wege, die sie nehmen oder nehmen könnten, leben nach der Lektüre weiter. Nicht weniger als das erwartet man von guten Erzählungen.

Neu Erschienen

Eva Menasse
„Tiere für

Fortgeschrittene“
Verlag Kiepenheuer & Witsch
317 Seiten
20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2017)

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