Der Poet und Moralist Tankred Dorst ist tot

Schriftsteller Tankred Dorst (1925–2017).
Schriftsteller Tankred Dorst (1925–2017).(c) APA/dpa/Marcel Kusch (Marcel Kusch)
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Er war ein großer Bildermacher und Träumer, viele Werke schrieb er mit seiner munteren Ehefrau.

„Vom Vater hab ich die Statur . . .“ Wollte man Goethes bekanntes Zitat über seine Eltern ausnahmsweise einmal auf ein Ehepaar, in diesem Fall Tankred Dorst und Ursula Ehler anwenden, es würde ebenfalls stimmen. Er war der Ernste, Introvertierte, er hatte die große Fantasie und er litt, denn er war ein Moralist. Er redete nicht immer gern. Sie wirkte im Gespräch gescheit, handfest und energisch. In vielen Stücken band dieses glückliche Paar seine Talente zusammen . . .

Dorst wurde 1925 in Oberlind/Thüringen geboren, die Familie besaß eine Maschinenfabrik. Dorst musste als Schüler zum Reichsarbeitsdienst und 1944 zur Wehrmacht an die Westfront. Er kam in Kriegsgefangenschaft, die Sowjets enteigneten die Fabrik, die Familie flüchtete. Dorst studierte Germanistik und Kunstgeschichte, Anfang der 1970er-Jahre lernte er seine Frau kennen.

15 Stunden für Merlin – und „Parsifal“

Dorsts Werk hat eine enorme Bandbreite. Er bewegte sich durch viele Genres und Kulturen, das Drama blieb seine Domäne. Auf Brechts Spuren schrieb er 1961 „Große Schmährede an der Stadtmauer“, der Titel ist für ihn und seine Generation zu einem geflügelten Wort geworden. In „Toller. Szenen aus einer deutschen Revolution“ verbindet Dorst Dokumentation und Revue. Im Revoltejahr 1968 wurde das Stück zum Skandal. Das deutsche Theater schickte sich an, Bildungsgut zu dekonstruieren. Dorst blieb zurückhaltend. Er scheute stets das allzu Demonstrative, Offensichtliche, blieb in der Spur der vieldeutigen Klassiker – und dennoch klar. 1981 fühlte er, dass viele Utopien gescheitert waren – und schrieb „Merlin oder Das wüste Land“, ein Monumentaldrama von 15 Stunden Spielzeit. Die Illusionen des Autors waren gesprengt, er sprengte die Form (wie Karl Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit“).

Ein echter Renner landauf, landab war 1986 „Ich, Feuerbach“: Ein Schauspieler wütet gegen einen abwesenden Regisseur. Viele Mimen empörten sich damals gegen das Regietheater, speziell unter dem heftig umstrittenen Burgchef Claus Peymann – der die bernhardeske Tirade ins Programm nahm (mit Rudolf Wessely). Der groteske rustikale Außenseiter „Korbes“ war in den Achtzigern beim Berliner Theatertreffen zu sehen, Robert Wilson nahm sich am Thalia-Theater in Hamburg Dorsts „Parzival“-Version an. Dieter Dorn inszenierte in München seinen „Karlos“, nicht Schillers traurigen Hero, sondern eine Parabel über die Perversionen der Macht und ein zerstörtes Kind. 1992 war die Uraufführung von „Fernando Krapp hat mir diesen Brief geschrieben“ im Akademietheater zu sehen, ein abgründiges Krimimärchen über Liebe und finanzielle Abhängigkeit, vielleicht nach Beckett. In dessen Einakter „Das letzte Band“ spricht Krapp. Nicht immer war Dorst erfolgreich, seine Werke galten manchmal als spröde. Er schien zu viel zu wissen und sich zu verweigern, das Naheliegende oder das Modische zu wählen. Dabei war er vielseitig, stets neugierig, auf Film, Bearbeitungen, Kinderstücke, Prosa. 2006 inszenierte er in Bayreuth Wagners „Ring des Nibelungen“, zu unpolitisch und konservativ, missglückt, fanden Kritiker.

„Ich denke, die Menschen werden zum wenigsten von Vernunft beherrscht, sie folgen ihrer Fantasie“, davon war der Mann mit den dichten, schneeweißen Haaren und dem Gehstock, der aussah wie ein Eremit oder wie ein Opa aus alter Zeit, überzeugt. Die Fantasie wollte er stimulieren, die Vernunft, hoffte er, würde sich dadurch entwickeln. Vielleicht kein schlechter Ansatz. Mit 91 Jahren ist Tankred Dorst gestorben. (bp)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2017)

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