Die übersättigte Welt der Zauberer

Als Hogwarts noch rätselhaft war: Harry als Erstklässler, gespielt von Daniel Radcliffe (2001).
Als Hogwarts noch rätselhaft war: Harry als Erstklässler, gespielt von Daniel Radcliffe (2001).(c) Warner Bros.
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Vor zwanzig Jahren erschien der erste „Harry Potter“-Roman. Noch immer erklärt J. K. Rowling ihr Universum – und läuft Gefahr, ihrem Werk die Magie zu nehmen.

Literatur lebt vom Überraschenden, Ungewohnten. Davon bot der erste Roman um den jungen Zauberer Harry Potter vieles, als er vor zwanzig Jahren auf den Markt kam. J. K. Rowling setzte ihre Figuren in eine Welt, in der Eulen die Post überbringen, Frisbees sich in Vorhänge verbeißen, Glasaugen durch Wände sehen können und Kapuzengestalten anderen jede Emotion aussaugen. Und sie baute ein großes Rätsel um Harrys Aufgabe in der magischen Welt auf: Jedes Detail, das im Buch auch nur am Rande genannt wurde, konnte im Endspiel die Lösung dafür sein, wie man Harrys bitterbösen Antagonisten Voldemort und seine „Todesser“ bekämpfen könnte. Nicht nur Kinder – eine Zeitlang gab es sogar Erwachsenenausgaben mit „seriöserem“ Cover – besprachen alle Details; die Leser folgten der Schnitzeljagd in Agatha-Christie-Manier.

Dabei war vieles in den Geschichten nicht wirklich neu. Die Autorin verwendete nicht nur Versatzstücke aus Mythologie und Märchen, sondern baute um Legenden Geschichten auf. Mythologische Wesen sind in ihrer Welt derart zahlreich, dass man schon überlegen muss, welche nicht vorkommen. Auf den insgesamt 4345 Seiten tummeln sich Einhörner, Phönixe, Werwölfe, Drachen (sogar mit goldenem Ei), Elfen (allerdings recht unhübsche), Hippogreife, Basilisken oder die rätselliebende Sphinx als Bewacherin versteckter Schätze. Die Geschichten würden sich frisch anfühlen – aber es liege in unserer DNA, sie zu mögen, sagt der Kurator der „Harry Potter“-Ausstellung, die für Herbst in der British Library angekündigt ist. Märchen und Mythen berühren Urängste und universelle Hoffnungen. Der Kern dieser Geschichten wurde gesungen, gesprochen, geschrieben, und über die Jahrhunderte in die Gegenwart getragen.

Liegt Beauxbatons in den Pyrenäen?

Heute bleiben so gut wie keine Fragen zum „Harry Potter“-Universum offen – denn die Autorin tat etwas, das ihr Werk schädigte: Sie erklärte, und sie erklärte alles. Auf einer eigenen Webseite (Pottermore.com) beantwortete sie, warum die eine Figur sterben musste, eine andere ihr Liebesglück finden konnte, legte familiäre Hintergründe dar. Sie verortete die Schule Beauxbatons in den Pyrenäen (was von Fans wegen der Kleidung als unglaubwürdig empfunden wird), macht Angaben zum Alter der Lehrer und deckt auf, dass Schulleiter Dumbledore weit zurückliegend eine homosexuelle Beziehung mit einem anderen Zauberer hatte. Kurz gesagt: Rowling ließ wenig Raum für Fantasie. Die Filme und natürlich die Fanseiten taten das Übrige, jeder Handlungsstrang, jede Figur der siebenteiligen Romanreihe wurde detailversessen erörtert.

Die Bücher an sich wären schon dicht genug gewesen. Sie greifen beinahe jedes gesellschaftliche Thema fernab der Zauberei auf: Coming of Age, Erziehung und Bildung, besonders aber Politik. So werden kniehohe Hauselfen als Arbeitssklaven gehalten, die Befreiungsüberlegungen nehmen nicht wenig Platz ein. An erster politischer Stelle steht aber die Frage, inwieweit man sich gegen ein Unrechtsregime wehren kann und muss. Rassismus gibt es auch in der Welt der Magie: Traditionsreiche, aristokratisch angehauchte Familien bilden sich viel auf ihre „Reinblütigkeit“ ein, also auf den Umstand, dass in ihrem Stammbaum lediglich Zauberer und keine „Muggel“ auftauchen. Kinder von Eltern, die beide nicht zaubern können, nennen sie „Schlammblut“. Es gibt Ämter für alles Mögliche, etwa die Neuzuteilung von Hauselfen. Lustig aus heutiger Sicht: das Amt für Desinformation. Doch auch seine Bedeutung ist restlos geklärt.

450 Millionen Buchexemplare (in 77 Sprachen) rund um das Zauberinternat wurden inzwischen verkauft. Acht Blockbuster sind aus den Geschichten um Harry, Hermine und Ron entstanden. Und die Welt der Zauberer wird immer noch weiter ausgedehnt: Im ersten Spin-off „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“ wurde die Zaubererwelt Amerikas ergründet, in den Romanen blieb das magische Treiben außerhalb des Einzugsgebiets von Hogwarts weitgehend ausgespart. Vier weitere Filme mit Eddie Redmayne und Johnny Depp sind geplant. Auf der Bühne wird die Zukunft der Protagonisten weiter verfolgt, 2016 wurde der achte Teil der Harry-Potter-Reihe, das Theaterstück „Harry Potter und das verwunschene Kind“, in London uraufgeführt. Hier kann man die ehemals jungen Zauberer als überforderte Familienväter sehen. 2018 soll es auch am Broadway laufen.

EIN MAGISCHER ERFOLG

„Harry Potter und der Stein der Weisen“ erschien am 26. Juni 1997 beim britischen Verlag Bloomsbury. Zuvor war das Manuskript, das die Alleinerzieherin Joanne K. Rowling in Cafés geschrieben hatte, von etlichen Verlagshäuser abgelehnt worden. Bloomsbury nahm es an – weil das erste Kapitel der Tochter des Chefs so gut gefiel –, druckte aber zunächst nur 500 Exemplare. 450 Millionen Bücher aus der Reihe sollten schließlich verkauft werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2017)

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