Michael Köhlmeier: "Ich denke, Gott ärgert sich über uns"

Köhlmeier
Köhlmeier(c) Michaela Bruckberger
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Der Schriftsteller Michael Köhlmeier hat vor Kurzem seinen Erzählband "Mitten auf der Straße" vorgelegt. Mit der "Presse am Sonntag" sprach er über das Böse und den Trost durch die griechische Mythologie.

Ihre jüngeren Erzählungen muten ein wenig wie Märchen an.

Michael Köhlmeier: Das Märchen ist eine Urform des Erzählens. Es beginnt mit „Es war einmal“, und dieses „Es war einmal“ hat etwas Beruhigendes. Das Präteritum bedeutet ja auch: Wir haben überlebt. Egal, was da passiert ist, egal, wie schrecklich es war, wir beide, der Zuhörer und der Erzähler, haben es überlebt, sonst säßen wir nicht hier.

Wir haben das Bedürfnis nach Geschichten.

Wobei diese Geschichten sich nicht nur zwischen zwei Buchdeckeln finden müssen. Auch die ZiB ist eine Erzählung: Der Moderator nimmt uns an der Hand und führt uns durch die Welt. Er erklärt uns die Wirklichkeit. Er ist für uns eine Vertrauensperson: Nicht zufällig waren die Leute fast verstört, als Armin Wolf ihnen erklärt hat, er gehe jetzt ein Jahr in Bildungskarenz.

Sie sind mittlerweile für die Nacherzählung griechischer Sagen fast so bekannt wie für eigene Prosa.

Wenn ich eigene Texte vorlese, ist das eine ganz andere Situation, als wenn ich frei erzähle. Bei einer Lesung steht immer der Text zwischen mir und den Zuhörern. Wenn ich erzähle, erzähle ich nie einem ganzen Saal: Ich suche mir am Anfang zwei Menschen aus, meistens Frauen, die mir wohlwollend erscheinen und die gespannt dreinschauen. Für die beiden erzähle ich. Erzählen ist etwas Intimes. Radio, das intimste Medium. Das zu begreifen, ist übrigens das große Verdienst von Wolfgang Kos in den Siebzigerjahren gewesen. Davor haben die Radiomoderatoren immer ins Mikro gebrüllt, als säßen sie vor einem Saal mit tausenden Menschen. Kos hat verstanden, dass vor dem Radio meist nur ein Einzelner sitzt und hat ihm ins Ohr geflüstert.

Was ist der Unterschied zwischen mündlichem Erzählen und Schreiben?

Vieles und nichts. Man könnte auch fragen: Was ist der Unterschied zwischen Kochen und Schreiben? Oder zwischen Schreiben und Basteln? Oder zwischen Schreiben und Wohnung-Aufräumen? Man hat etwas Ungeformtes vor sich und versucht, es in eine Form zu bringen. Wobei diese Form nicht zu glatt, nicht zu anschmiegsam sein darf. Sonst kann der Zuseher oder Zuhörer seine eigene Form nicht mehr wahrnehmen. Es ist wie bei einem Kindermobile: Die schönsten sind nicht die, bei denen alle Holme gleich lang sind – sondern die, bei denen manche länger und manche kürzer sind. Deshalb muss man dort etwas Schwereres hinhängen, dort etwas Leichteres. Es entsteht eine Harmonie des Ganzen – auch wenn die Einzelteile disharmonisch sind. Das ist wie beim Septakkord – er muss aufgelöst werden. Wenn man auf ihm draufbleibt, wird man wahnsinnig.

Sie haben gerade einen „Club 2“ über das Böse geleitet.

Wobei ich mit dem Begriff „das Böse“ vorsichtig sein würde. Der Gerichtsgutachter Reinhard Haller hat für ein Buch mit Verbrechern gesprochen. Wenn er sie gefragt hat, ob es „das Böse“ in ihnen gewesen sei, das sie zu den Taten getrieben hat, haben sie dankbar zugestimmt: Es war gar nicht ich, sondern etwas anderes. Außerdem: Wo beginnt das Böse? Können Tiere etwa böse sein? Wir hatten einmal Geschwisterkatzen, ein Männchen und ein Weibchen, die verstanden sich so gut – es war eine Freude, ihnen zuzusehen. Dann wurde sie trächtig, bekam zwei Katerchen, es war immer noch alles wunderbar. Aber als die beiden erwachsen waren, verbündeten sie sich mit dem Onkel gegen die Mutter und verjagten sie. Dann taten sich die Brüder gegen den Onkel zusammen und vertrieben auch ihn. Schließlich kämpfte ein Bruder gegen den anderen – und am Ende blieb nur einer übrig. Wir nannten ihn den Teufel, „'s Tüfele“. Es war eine wahnsinnig liebe Katze.

Natürlich könnten wir uns auf den Standpunkt stellen, dass wir Produkte von Genen und Umwelt sind. Für beides sind wir nicht verantwortlich. Aber was dann?

Die Juristerei hat da einen sehr pragmatischen Zugang. Sie sagt: Das ist uns völlig egal. Sie fragt nur, ob die Taten mit dem menschlichen Zusammenleben vereinbar sind. Außerdem halte ich diese ganze Infragestellung des freien Willens für intellektuelle Koketterie. Intuitiv wissen wir, dass es ihn gibt. Das ist Theologie ohne Gott. Einmal waren wir in Gottes Hand, jetzt wollen wir wenigstens in der Hand der Natur sein. Nur ja nicht in eigener Hand. Es ändert im Übrigen auch nichts an meiner Einstellung, wenn mir die Gehirnforschung erklärt, wie die Entscheidungsfindung im Gehirn funktioniert. Wenn ein Marsianer ein Fahrrad findet, dann wird er nicht lange brauchen, um festzustellen, wie es funktioniert. Aber das heißt noch lange nicht, dass er weiß, wozu man es braucht!

Sie arbeiten an Gedichten?

Jetzt nicht mehr. Ich habe im März damit angefangen, da hat mich mit einem Mal die Gedichtwut gepackt – aber im Oktober ist sie genauso plötzlich wieder erloschen. Ich hatte keinerlei Erfahrungen mit Lyrik – wenn man von ein paar Versuchen als Jugendlicher einmal absieht.

Wie würden Sie Ihre Gedichte beschreiben? Eher wie Celan oder wie Fried? Wobei ich gleich sage: Ich mag beide.

Ich mag beide nicht. Bei Celan habe ich das Gefühl, er weiß, was er will, sagt es mir aber nicht. Bei Fried, er weiß, was er will, und sagt es mir zu deutlich. Bei beiden spüre ich eine Absicht. Und Absichten in der Literatur verstimmen bekanntlich. Mein liebster Lyriker ist William Carlos Williams. Das ist für mich wahre Poesie: Weil sie die Dinge als Dinge anerkennt. Die Lyrik missbraucht ja die Welt gerne als Metapher: Ich borge mir einen Wald aus und meine damit etwas ganz anderes. Und wenn man zum Beispiel eine Tasse Tee erwähnt, muss man die gleich dramatisch aufladen. Tee und Tasse allein genügen nicht. Dabei ist das gar nicht notwendig! „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“, hat Gertrude Stein gesagt.

Und Magritte hat das Bild einer Pfeife gemalt und darunter geschrieben: Das ist keine Pfeife. Weil es ja das Bild einer Pfeife ist.

Natürlich muss man das mitdenken: dass ich gestalte. Aber wir glauben mehr dem Metaphysischen als dem Physischen. Wir vertrauen den Dingen weniger als ihrer Bedeutung. Mir geht es um diese Dinge. Um es anders zu erklären: Wenn das Erste, was ich in meinem Leben sehe, eine Colaflasche ist – dann enthält sie die ganze Welt. Oder wenn es das Letzte ist, was ich sehe. Im ersten Fall können wir uns nicht daran erinnern, im zweiten Fall haben wir keine Zeit mehr, diese Welt zu beschreiben. Im besten Fall springt hier der Dichter ein.

„Idylle mit ertrinkendem Hund“ handelt vom Tod Ihrer Tochter Paula. Oder besser davon, dass Sie nicht über ihn schreiben.

Und doch habe ich darüber geschrieben. Aber ich möchte nicht mehr in der Öffentlichkeit darüber reden und schon gar nicht etwas darüber in der Zeitung lesen.

Religion, stellt man sich vor, sollte Trost spenden. Die griechische Götterwelt bietet da wenig. Oder doch?

O doch! Die Erzählungen bilden einen gigantischen Katalog an Präzedenzfällen. Was immer du tust, was immer du erleidest, es gab vor dir jemanden, der Ähnliches getan, Ähnliches gelitten hat. Darin liegt Trost. Trost sagt doch immer: Du gehörst dazu.

Anders gefragt: Was kann die griechische Götterwelt, was die Bibel nicht kann?

Die Götterwelt ist weitgehend frei von Moral. Und hat somit viel mehr Geschichten zu bieten. Umgekehrt gilt: Die griechische Mythologie, eben weil sie weitgehend frei von Moral ist, ist statisch. Sie bringt nichts vorwärts. Die Menschenrechte wären in der Antike nicht einmal denkbar gewesen.

Hat sich Ihr Verhältnis zur christlichen Religion durch die Nacherzählung von Geschichten aus der Bibel verändert?

Mein Verhältnis zur christlichen Religion hat sich schon durch meine Internatszeit verändert. Seither weiß ich, der erste Schritt weg von Gott ist die Gründung einer Religion.

Ich nehme an, Sie sind Atheist. Woran glauben Sie?

Ich bin kein Atheist. Ich glaube, dass wir keine Transzendenz brauchen. Ich denke, Gott ärgert sich über uns. Wir schauen seine Schöpfung an, und sie ist uns nicht genug. Wir wollen dahinter noch etwas haben. Die Naturwissenschaft zeigt uns alle Wunder, die es gibt. Und wir sagen: Ja, aber ... Wäre ich Gott, ich würde mich darüber sehr ärgern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2009)

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