Robert Harris: „Chamberlain hat Hitler eine Falle gestellt“

„Das Münchner Abkommen wird allgemein als Sieg Hitlers über Chamberlain gesehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Gegenteil stimmt.“
„Das Münchner Abkommen wird allgemein als Sieg Hitlers über Chamberlain gesehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Gegenteil stimmt.“Evening Standard / Eyevine / picturedesk.com
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Für „Fatherland“ oder seine Cicero-Romane ist Robert Harris berühmt. Nun deutet er in „München“ Englands Appeasement-Politik sehr ungewohnt. Ein Gespräch.

Den Sieg Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg hat der Brite Robert Harris vor 25 Jahren in „Fatherland“ imaginiert, der Roman machte ihn berühmt. Seitdem hat Harris seine Leser unter britische Codeknacker geführt („Enigma“), auf die Jagd nach Stalins Tagebüchern („Aurora“), er hat sie den Untergang Pompejis („Pompeji“), den Aufstieg und Fall Ciceros („Imperium“, „Titan“, „Dictator“) erleben lassen. Um nun zu seinem Anfangsthema, dem Zweiten Weltkrieg zurückzukehren – und dessen Vorgeschichte in einem höchst ungewöhnlichen Licht zu erzählen. „München“, das Harris am Donnerstag auf der Buch Wien vorstellt, führt hinter die Kulissen des Münchner Abkommens 1938, schleust einen Engländer und einen Deutschen ein, die Chamberlain vor Hitler warnen wollen – und wertet Neville Chamberlains seit dem Weltkrieg so vernichtend beurteilte Appeasement-Politik positiv.

Die Geschichte hat über den britischen Premier Neville Chamberlain längst den Stab gebrochen, er gilt als Versager gegenüber Hitler, als mit schuld am Krieg. In „München“ weckt er Sympathien, Respekt. Was hat Sie dazu gebracht, ihn so anders zu sehen?

Robert Harris: Vermutlich habe ich heute mehr Sympathien für Chamberlain als die meisten Menschen. Die Sache beschäftigt mich schon seit 1988. Damals habe ich für die BBC eine Doku über das Münchner Abkommen gemacht und dabei Chamberlains Tochter und seinen Privatsekretär, Alec Douglas-Home, interviewt. Das hat mir Chamberlains Charakter nähergebracht und die Schwierigkeiten, mit denen er zu tun hatte. Ich finde, er wurde von der Geschichte sehr unfair behandelt. Er war kein Narr und er war nicht naiv. Er hatte eine Abscheu vor Krieg und war entschlossen, alles zu tun, um ihn zu vermeiden. Und in gewisser Weise gelang es ihm auch, Hitler auszutricksen.

Sie meinen ausgerechnet die Unterschrift Hitlers unter dem gemeinsamen Friedensbekenntnis, das Chamberlain auf dem berühmten Foto von seiner Rückkehr aus München triumphierend hochhält – diese Unterschrift, die sich als völlig wertlos herausstellte und heute für Chamberlains totale Fehleinschätzung Hitlers steht?

An diesem Blatt Papier, das Chamberlains Reputation zerstört hat, sind zwei Dinge interessant. Erstens brachte Chamberlain in einer privaten Unterredung Hitler dazu, seine bombastischen öffentlichen Friedensversprechen zu unterschreiben . . .

. . . was Hitler nicht gut ablehnen konnte, weil er ja nur unterschreiben sollte, was er ohnehin gesagt hatte.

Genau, das war also schon auch eine Falle. Chamberlain hoffte zwar vermutlich, es würde funktionieren, aber zugleich sagte er denen, die meinten, das würde doch nichts bedeuten: Gut, aber dann sieht die Welt auch Hitlers wahres Gesicht. Und ich denke, dieses Dokument hatte auch wirklich seine Bedeutung in den Jahren danach, vor allem 1940, für die nationale Einheit, die Entschlossenheit, gegen Hitler zu kämpfen, im Wissen, dass man sich auf keine Zusagen von ihm stützen konnte. Diese moralische Kraft war es, die Chamberlain aus München zurückbrachte.

Unter Historikern ist das immer noch eine Minderheitensicht.

Das stimmt. Vor allem in der Populärkultur gilt das Münchner Abkommen als eindeutiger Sieg Hitlers über Chamberlain. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Gegenteil richtig ist. Die Sicht ist vernebelt, und das hat Auswirkungen auf die gegenwärtige Politik. Besonders in Amerika benutzen republikanische Senatoren die Worte Appeasement und München als Kriegsargument, wo immer es um militärische Inventionen geht. Dabei ist Hitler selbst ein guter Zeuge, er war noch zwei Wochen danach in miserabler Stimmung, sagte, Chamberlain habe die Deutschen zum Narren gehalten. Er wollte den Krieg, er wollte die Tschechoslowakei von der Landkarte fegen! Noch 1945 sagte er: Wir hätten schon im September 1938 in den Krieg ziehen sollen. Wer hat also in München zumindest vorübergehend sein Ziel erreicht? Chamberlain. Er hatte Hitler dazu gedrängt, seine Beschwerden gegenüber der Tschechoslowakei genau aufzulisten – und sie dann erfüllt. Hitler fühlte sich gelegt. Ein Jahr später, als es um Polen ging, hat er diesen Fehler nicht mehr gemacht.

Welche Rolle spielte Churchill für Chamberlains Nachleben?

Eine Hauptrolle. Dabei kamen die beiden persönlich gut miteinander aus. Aber nach Chamberlains Tod sagte Churchill: „Chamberlain wird in der Geschichte schlecht wegkommen. Ich weiß das, weil ich sie schreiben werde.“ Er tat das, um besser dazustehen. Er stellte den Krieg als Sache dar, die hätte vermieden werden können.

Warum glauben Sie, dass die Appeasement-Politik alternativlos war – weil die britische Armee 1938 noch so schwach war? Weil die Sudetendeutschen den Anschluss wollten und die Briten einen Krieg um diese Sache nicht verstanden hätten?

Beides sind wesentliche Gründe. Die Briten hatten erst 20 Jahre davor einen Krieg geführt, in dem sie eine Viertelmillion Menschen verloren. Man war nicht fürs Aufrüsten, weil man darin einen Grund für den Ersten Weltkrieg gesehen hatte. Außerdem war die Zeit der Großen Depression. Chamberlain wurde 1937 Premierminister, unter ihm rüsteten die Briten bis 1939 massiv auf. Zumindest hatten die Briten dann, als sie kämpfen mussten, auch die Waffen. Und nicht nur Churchill, auch die Labour Party, die alle Pläne Chamberlains für Aufrüstung und verpflichtenden Militärdienst abgelehnt hatte, hat später Chamberlain die eigenen Fehler zugeschoben.

Dafür wurde rund um den Brexit das Jahr 1940 zum wichtigen Symboljahr.

Eine Art Fetisch sogar. Der Film „Dunkirk“ wurde gewissermaßen zum Brexit-Film. England ist ja als einziges Land Europas mit nationalem Stolz aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, viel Brexit-Rhetorik bezog sich also auf den stolzen Alleingang von 1940. Und England benutzt heute das Jahr 1940, das beeinflusst auch die britische Außenpolitik. Ich leugne ja nicht, dass das ein großer Moment in der britischen Geschichte war, aber es verzerrt unsere Sicht auf die Welt. Auch das hat mich an „München“ gereizt – eine andere Seite dieser Geschichte zu zeigen. In vieler Hinsicht ist das Porträt von England 1938 realistischer als das von 1940.

Die zwei Helden Ihres Romans sind Hugh Legat, der als Privatsekretär Chamberlains nach München mitreist, und Paul von Hartmann aus dem Auswärtigen Amt in Berlin, der Mitglied einer Widerstandszelle ist. Sie riskieren ihre Existenz und scheitern kläglich, auch vor Chamberlain selbst. Das ist eine sehr illusionslose Sicht auf die Realität des Widerstands . . .

Ich finde, man muss die Epoche und die Figuren darin mit Respekt behandeln. Wir alle wissen ja heute, was danach passiert ist, die Menschen mittendrin wussten nicht, was als Nächstes passieren wird. Wir können heute sagen, Chamberlain war doch verrückt, er hat gehofft, dass man Hitler vertrauen kann! In einigen Jahren wird vielleicht verrückt erscheinen, wie wir uns gegenüber China verhalten.

Vor zwei Jahren haben Sie Ihre Cicero-Trilogie abgeschlossen. Haben Sie nicht das Gefühl, dass unsere Kultur den Kontakt zur römischen und griechischen Antike derzeit in rasantem Tempo verliert?

Man muss sicher darum kämpfen, das Interesse an dieser Zeit aufrechtzuerhalten. Dabei erscheint mir das Ende des Römischen Reichs als so auffälliger Spiegel unserer Zeit! Die Prinzipien der Politik sind dieselben und die konstante Bedrohung des demokratischen Systems. Seit ich die Trilogie fertiggestellt habe, finde ich, dass sie sogar noch relevanter geworden ist als zur Zeit, als ich sie geschrieben habe. Insbesondere handelt die Trilogie von endlos denselben Dingen, von Millionären, die die Massen gegen die Elite aufzuhetzen versuchen. Das haben Catilina gemacht, Claudius, Caesar, und am Ende wurde die Elite zerstört, der Senat entmachtet, das Land von Mob und Diktatoren beherrscht.

Viele sehen den Begriff Elite als Gegensatz zu Demokratie, Sie sehen ihn also positiv?

Was ich in England verteidige, ist zumindest die Souveränität des House of Commons. Ich bin für das Parlament statt für Referenden, die das Mittel von Diktatoren wie Hitler sind. Ich glaube, dass Macht am besten durch gewählte Repräsentanten ausgeübt wird. Die Zerstörung etablierter Ordnungen wird oft mit der Linken assoziiert, aber in diesem Punkt treffen sich Linke und Rechte. Beide wollen das Establishment zerstören. Dann wäre es wie in der römischen Republik, die Leute würden das Vertrauen in ihre lokalen politischen Vertreter verlieren und sich an starke Führer halten, die ihr Handeln, wenn sie es gerade brauchen, mit Referenden legitimieren.

Wäre das für Sie, nach der Rom-Trilogie, auch ein Thema für einen im Heute spielenden Roman?

Ich möchte tatsächlich einen Weg finden, diese Dinge in eine Geschichte zu bringen, darüber denke ich nach. Politik ist momentan absolut faszinierend, zentral für alle Menschen. Das war seit sehr langer Zeit nicht mehr der Fall.

Sie haben viel mit Filmregisseur Roman Polanski zusammengearbeitet. Was empfinden Sie, wenn Sie heute sehen, dass er und teilweise auch sein Werk geächtet werden?

Mir tut das sehr leid. Ich verteidige nicht, was vor 40 Jahren passiert ist, aber die betreffende Frau hat ihm verziehen und verteidigt ihn. Das ist kein Fall Weinstein. Aber ich fürchte, dass seine Worte im gegenwärtigen Klima wie ein Flüstern im Hurrikan sind. Dass man nicht einmal mehr sein bisheriges Werk zeigt, ist eine hysterische Reaktion. Aber es ist leider nicht die Zeit für subtile Unterscheidungen.

Buch Wien mit Harris

Am 9. 11. stellt Robert Harris seinen Roman „München“(im Original „Munich“) vor: um 16 Uhr auf der ORF Bühne der Buch Wien, um 19 Uhr dann im Heeresgeschichtlichen Museum. 432 S., geb., 22,70 Euro (Heyne).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2017)

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