Michael Köhlmeier: »Ich kann sehr viel über Gewalt erzählen«

(c) Die Presse (Michaela Bruckberger)
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Sonntagsspaziergang: Er ist ein ehemaliges Internatskind, das nicht von sexueller Nötigung berichten kann. Dafür aber über anderes, nicht minder Verstörendes. Der Schriftsteller Michael Köhlmeier begibt sich auf Spurensuche.

Vor zwei Tagen erhielt ich einen Anruf aus dem ORF-Landesstudio Vorarlberg. Eine Journalistin fragte mich, ob ich für ein Interview zur Verfügung stünde. Die Leitung des Internats Mehrerau in Bregenz hatte öffentlich gemacht, dass es auch in ihrem Haus sexuelle Übergriffe gegeben hatte. Ich sei ja auch in einem Internat gewesen; ob ich etwas erzählen wolle. Ich sagte, ich wisse nichts von sexuellen Nötigungen, aber könne einiges über körperliche Gewalt erzählen, die wir Zöglinge erfahren mussten. Die Journalistin bat mich, am Telefon zu bleiben, sie müsse in der Redaktion rückfragen. Ich wusste, was folgen würde. Es tue ihr leid, man sei nur an sexuellen Übergriffen interessiert. Obwohl ich diese Reaktion schon so oft erlebt hatte, tat diese Abfuhr wieder einmal sehr weh. Ich setzte mich in den Zug und fuhr nach Feldkirch. Ich wollte die große Runde um das Heim herum spazieren. Wir sagten Heim dazu. Ein Heim war es nicht.

Ich ging über den Weg hinauf, an den ehemaligen Sportplätzen vorbei, vorbei an der Mariengrotte, wo die Gottesmutter steht und mit dem immer gleichen Blick ins Leere starrt. Sie war Trost gewesen – kein großer Trost, auch ein Zehnjähriger glaubt nicht, dass eine angemalte Zementfigur Schmerz und Demütigung stillen kann.


Liebesbedürfnis. Vor fünfzehn Jahren war bekannt geworden, dass Kardinal Groër einige ihm anvertraute Buben „auf unsittliche Art berührt“ hatte (mit dieser Formel wurde im Heim Sex umschrieben, kein anderes Wort war zugelassen). Es hieß, er habe den Buben gezeigt, wie sie sich ihre Genitalien waschen sollen. Ich habe mich durch diese Geschichte in eine Verbocktheit treiben lassen. Ich habe in Freundeskreisen den Groër nicht gerade verteidigt, aber doch irgendwie verteidigt. Ich habe gesagt: Da steckt doch ein Liebesbedürfnis dahinter, ein pervertiertes Liebesbedürfnis, aber ein Liebesbedürfnis. Ich habe gesagt: Habt ihr eine Ahnung, wie einsam und verlassen sich ein Heimkind fühlen kann? Was für ein Trost es sein kann, in den Arm genommen zu werden, einfach angefasst zu werden, zu spüren, dass es meine Haut gibt und deine Haut gibt? Ich erinnerte mich, dass ich vom alten Pater Spiritual in den Arm genommen worden war, nachdem der Präfekt auf mich eingeprügelt hatte, dass ich glaubte, ich würde es nicht überleben. Der Spiritual hat mich nicht „auf unsittliche Art berührt“; er hat sich für seinen Mitbruder geschämt und wollte mich trösten und wohl auch sich selber.


Körperliche Gewalt. Auch nach dem Fall Groër haben mich Journalisten gefragt, ob ich ein Interview gebe. Ich hätte ja einen Roman geschrieben, der in einem Internat spielt. Ja, ich will ein Interview geben, aber ich weiß nichts von sexuellen Nötigungen. Ich kann sehr viel über körperliche Gewalt erzählen, die wir Zöglinge erfahren mussten. Es tue ihnen leid, man sei nur an sexuellen Übergriffen interessiert.

Wie blöd man dasteht! Es will niemand wissen. Wenn ein Zehnjähriger gezwungen wird, in Unterhose und Unterhemd auf zwei Bleistiften zu knien und zwei Lexikonbände auf seinen ausgestreckten Armen zu halten, wenn ihm dabei aber nicht an den Schwanz gegriffen wird, dann ist das nicht interessant. Ist auch keiner Entschuldigung wert. Wie blöd man dasteht! Erzähl das jemandem! Das klingt doch immer nach Veteranengarn. Der eine erzählt, der andere übertrumpft. Als ob man in der Fremdenlegion gewesen wäre. Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe, wofür ich bestraft worden bin, wahrscheinlich für meine erbsündige Existenz, die sich wieder einmal offenbart hat – in Schwätzen oder Lachen während des Mittagsgebetes oder Nichtaufessen oder Zuspätkommen oder Dreivokabelnnichtkönnen oder Lügen –, vom Aufwachen bis zum Einschlafen ein schlechtes Gewissen. Aber der Präfekt hilft dir ja, er steht zu dir. Er kennt einen Trick, wie man den Teufel überlisten kann. Er legt seine Hand auf deine Schulter, während du auf seinen Bleistiften kniest. Ich bin bei dir, ich lass dich nicht im Stich, halt es so lange aus, wie du kannst, gemeinsam schaffen wir es. Jetzt tut es vielleicht weh, aber so gelingt es uns, die Verdammnis von dir abzuwenden. Der dich quält, quält dich nicht, er ist dein Freund. Er legt dir die Hand auf die Schultern. Er greift dir nicht zwischen die Beine. Er ist dein Anwalt. Du hast nicht einmal die Möglichkeit, ihn zu hassen oder zu verachten. Er geht für dich durchs Feuer. Wer kümmert sich denn sonst um deine Sünden. Du bist ja erst zehn Jahre alt, du hast ja keine Ahnung vom Teufel. Der Präfekt nimmt deinen Eltern die Erziehung ab. Er kann es besser als sie. Sie vertrauen ihm. Wenn du dich über ihn beschwerst, bist du noch schlechter, als du ohnehin bist. Er ist der Mittler zwischen Gott, Muttergottes und allen anderen himmlischen Mächten. An wen, bitte, sollst du dich wenden? Es tut weh. Im Herz tut es weh. Vor allem aber in den Knien und im Rücken. Und es wird sich nie jemand dafür interessieren. „Geben Sie uns ein Interview? Sie waren doch auch in einem Internat.“ – „Ich gebe Ihnen gern ein Interview, aber ich weiß nichts über sexuelle Übergriffe. Ich kann NUR von Gewalt erzählen.“– „Tut uns leid, wir sind nur an sexuellen Übergriffen interessiert.“


Bestrafung. Verdammt noch mal! Auch nach fünfzig Jahren habe ich noch immer das Gefühl, weinerlich zu sein, oder ein Angeber, ein Vordränger, wenn ich davon erzähle – Gschichteln, Anekdoten, Abenteuer. Da kenn ich noch eine Wuchtl: Der Präfekt hat die Buben an ihrer eigenen Bestrafung teilhaben lassen; sie durften sich selber im Wald den Stecken schneiden, mit dem er sie dann verprügelte – dünner Stecken viele Schläge, dicker Stecken wenige Schläge; das ist doch auch eine Art von Mitbestimmung – ha, ha, ha. Wenn du davon erzählst, drängt sich ein schiefes Grinsen in dein Gesicht. Er hat dich zu seinem Kumpanen gemacht. Du bist sein Kumpan. Das hat dir ja eh getaugt, gib's doch zu! Das ist, wie wenn Dumpfbacken von ihrer Barraszeit erzählen, wie lässig es doch war, wenn der Spieß einen angebrüllt hat, er rühre dir gleich die Scheiße im Hirn um.

Parallelgesellschaft. Ich bin so weit gegangen, dass ich gesagt habe: Glücklich der, dem der Groër nur gezeigt hat, wie er sich den Penis waschen soll, der darf nach dreißig Jahren wenigstens ein Interview geben. Das war verbockte Rechthaberei, das weiß ich selber. Der Kardinal hat Verbrechen begangen. Die Kirche hat alles getan, um sie zu vertuschen. Von den Verbrechen an tausenden irischen Kindern soll der Vatikan gewusst haben. Der verantwortliche Papst wird zur Heiligsprechung vorgeschlagen. Die Kirche ist eine Parallelgesellschaft. Sie stellt sich außerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit. Sie löst intern.

Hinter dem Heim führt der Weg weiter, hinauf zu dem ehemaligen Steinbruch. Dort haben wir als Schüler Theater gespielt. Unser Präfekt war ein Fortschrittlicher. Ein Don Bosco aus Vorarlberg. Ein Moderner. Wir haben ihn geliebt. Und wenn er uns gezüchtigt hat, haben wir ihn noch mehr geliebt. Er hat uns in unserem eigenen Interesse verprügelt. Er hat uns in unserer Schuld nicht allein gelassen. Gefoltert wird immer für einen höheren Zweck. Die Journalistin vom Landesstudio Vorarlberg hat ja recht: Einen gewissen Unterhaltungswert muss die ganze Sache ja haben. Gewalt allein genügt nicht. Pfaffenhand an Bubenpopo – das ist eine Meldung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2010)

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