Nicht nur die Toten sind Opfer

Jonathan Lee wirft einen mitfühlenden Blick auf kleine Schicksale inmitten großer Ereignisse.
Jonathan Lee wirft einen mitfühlenden Blick auf kleine Schicksale inmitten großer Ereignisse.(c) Tanja Kernweiss
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Jonathan Lee erzählt in „High Dive“ von dem Bombenattentat auf den Tory-Parteitag 1984 in Brighton. Als Hauptdarsteller hat er einige namenlose Leidtragende gewählt.

An den Protagonisten in Jonathan Lees Roman „High Dive“ ist absolut nichts Außergewöhnliches. Philip Finch, genannt Moose, ist der gestresste stellvertretende Direktor des Grand Hotel in Brighton, das gerade den Zuschlag erhalten hat, die britische Premierministerin Margaret Thatcher samt ihrem Kabinett während des Tory-Parteitags 1984 zu beherbergen. Seine 18-jährige Tochter Freya jobbt bei ihm als Rezeptionistin, während sie die Entscheidung über ihre weitere Zukunft vor sich herschiebt. Dan ist in seinen frühen 20ern, ein Katholik aus Belfast, voll Zorn auf die englischen Truppen, die er (zu Recht) für den Tod seines Vaters verantwortlich macht.

Was Moose, Freya und Dan in diesem ungewöhnlich heißen September 1984 nicht ahnen, ist, dass ihre Wege sich bald auf fatale Weise kreuzen werden; dass sie alle unmittelbar, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise, davon betroffen sein werden, wenn am 12. Oktober 1984 eine Bombe im Grand Hotel explodiert, fünf Menschen in den Tod reißt und 31 weitere zum Teil schwer verletzt. Die Zielperson, die Premierministerin, bleibt unverletzt. Die Zahl der wahren Opfer aber ist höher als die der Toten und Verletzten.


Der Frust des Wasserspringers. Das ist die Botschaft von „High Dive“, in dem Jonathan Lee Fakten und Fiktion auf elegante und sprachgewaltige Weise miteinander verwebt. Jedes Leben ist es wert, gewogen und für wichtig befunden zu werden – egal wie unbedeutend es vielleicht für die Umwelt erscheinen mag. Das gilt vor allem für die tragische Figur von Moose, der mit seinen 45 Jahren mehr Leben hinter sich als Zukunft vor sich zu haben scheint. Der ehemalige Wasserspringer lebt sein Leben mit zusammengebissenen Zähnen, schluckt die Demütigungen im Hotelgewerbe ebenso hinunter wie die Frustrationen über die Lethargie seiner begabten Tochter. Von Zeit zu Zeit leistet er sich eine kleine Extravaganz wie einen Sprung vom Zehn-Meter-Brett – „nur lose im Raum verortet, von nichts gehalten, alles lautlos und verzögert wie vor einem Unfall“. Später wird er für diese Waghalsigkeit einen hohen Preis bezahlen müssen.

Teuer kommen seine Entscheidungen auch dem jungen Dan zu stehen, dessen Lebensziel mit 18 darin besteht, „aufgenommen“ zu werden – und zwar bei den Provos, der IRA. Seit sein Vater bei einer friedlichen Demonstration von einem Stein am Kopf getroffen wurde und an den Folgen starb, sinnt Dan auf Rache am Leben an sich. Die Hände möchte er sich allerdings nicht direkt schmutzig machen, zu groß ist die Angst vor der Verantwortung, davor, dass die Opfer ein Gesicht bekommen könnten. Dans Spezialität ist die indirekte Tat, die Elektrobasteleien an Zündern. Dafür wird er nach Brighton geschickt, wo er unter dem Alias Roy Walsh im Zimmer 629 des Grand Hotel eincheckt. Er ist der Platzhalter für Patrick Magee, den Sprengmeister der IRA, der im Juni 1986 zu achtmal lebenslänglich verurteilt, im Rahmen des Karfreitagsabkommens 1999 aber amnestiert wird.

In Brighton trifft Dan auf Freya, deren Leben geduldig darauf wartet, dass das Mädchen sich entschließt, es endlich in Angriff zu nehmen. Falls Freya dazu überhaupt noch die Gelegenheit bekommt. Falls es nicht, wie Moose es zusammenfasst, eine höhere Macht gibt, irgendjemanden, der so etwas wie eine Explosion in einem Hotel für fair befindet.


Von 1984 zum Brexit. Jonathan Lee, geboren 1981 in Surrey in England, schlug sich einige Jahre mit Gelegenheitsjobs quer durch die Welt, ehe ihm mit „Wer ist Mr. Satoshi?“ der literarische Durchbruch gelang. Mittlerweile lebt er in New York City. „High Dive“ ist ein ungewöhnlicher Roman, der sich der Kategorisierung widersetzt: kein Thriller, keine politische Abrechnung, sondern ein Buch, das einen mitfühlenden Blick auf die menschlichen Schicksale inmitten großer Geschehnisse wirft. Und obwohl es 1984 spielt, riecht und schmeckt es sehr stark nach dem Brexit-England der Gegenwart, wo Schein noch immer mehr zählt als Sein, das Leben hart ist und viele Menschen sehr verloren sind.

Neu Erschienen

Jonathan Lee:
„High Dive“

Übersetzt von
Cornelia Holfelder-von der Tann

Verlag btb
464 Seiten
16,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2018)

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