Roman "Die Mauer": Das Leben nach dem Untergang

Ein scharfes Auge für die britische Gesellschaft: Diesmal blickt John Lanchester in eine unerfreuliche Zukunft.
Ein scharfes Auge für die britische Gesellschaft: Diesmal blickt John Lanchester in eine unerfreuliche Zukunft.(c) Marijan Murat
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John Lanchester hat mit »Die Mauer« eine Dystopie geschrieben, die umso mehr erschreckt, als vieles davon bereits Realität ist. Der britische Autor nimmt auch seine Leser in die Pflicht.

Es ist kalt auf der Mauer.“ Das ist der erste Satz des neuen Romans von John Lanchester. Es wird auch der letzte sein. Das zu verraten heißt allerdings nicht, das Ende von „Die Mauer“ vorwegzunehmen – denn ob dieses „happy“ ist, wird ohnedies jeder Leser selbst entscheiden müssen. Wobei die meisten recht schnell zu dem Schluss kommen dürften, dass „glücklich“ so ziemlich das letzte Kriterium ist, das in Lanchesters hässlicher neuen Welt Gültigkeit hat.

Dystopien stehen literarisch hoch im Kurs. Wie immer, wenn die Menschheit sich vor sich selbst fürchtet und vor dem, wozu sie imstande ist, fließen die negativen Zukunftsszenarien den Autoren nur so aus der Feder. Lanchester, bisher vor allem bekannt für seinen feinen Sensor, mit dem er die Temperatur der britischen Gesellschaft misst („Kapital“), vereint in seinem Roman gleich mehrere besonders besorgniserregende Elemente: den Klimawandel, globale Flüchtlingsbewegungen, die Spaltung der Gesellschaft in Habende und in Wollende, Konflikt als bestimmendes soziales und politisches Element, den Brexit und eine Mauer.

Vor allem Letztere wird zum inneren und äußeren Symbol des Lebens auf der Insel, die von Anfang an unschwer als Großbritannien zu erkennen ist. Um sich vor den Zuständen nach dem „Wandel“ zu schützen, wurde eine Mauer rund um die gesamte Insel errichtet: 10.000 Kilometer lang, fünf Meter hoch, drei Meter breit. Diese soll einerseits verhindern, dass die Insel im angestiegenen Meer versinkt. Andererseits soll sie die „anderen“ abhalten, die Klima- und Wirtschaftsflüchtlinge, die in ihren Booten kommen und nur darauf warten, ins „beste Land der Welt“ einzufallen.

Um diese Verteidigungsbereitschaft zu gewährleisten, müssen alle jungen Leute – sofern sie nicht der Elite angehören – zwei Jahre Dienst auf der Mauer tun. Einer von ihnen ist Joseph Kavanagh. Alles an Kavanagh ist durchschnittlich und typisch für seine Generation. Mit seinen Eltern kann und will er nicht reden, seit er verstanden hat, dass sie „die Welt unwiederbringlich an die Wand gefahren“ haben. Sein Ziel ist es, der Elite anzugehören und ihre Privilegien zu genießen. Denn Sicherheit wird mit Isolation erkauft, und diese bedeutet den Verzicht auf viele Konsumgüter, die früher selbstverständlich waren. Klingt bekannt? Klingt nach Hard Brexit!

Von diesen Privilegien träumt der Ich-Erzähler Kavanagh während seiner Schichten auf der Mauer, einem „unbarmherzigen Ort“, an dem junge Leute nicht nur das Töten lernen, sondern auch innerlich verändert werden: hart, rücksichtslos und heimatlos. Denn für jeden „anderen“, der es über die Mauer schafft, wird ein Verteidiger auf dem Meer ausgesetzt. Das Leben auf der Insel ist ein Nullsummenspiel.

Die Kompanie als Lichtblick. Auch für Kavanagh ist seine Zeit auf der Mauer „die mit Abstand prägendste Erfahrung im Leben meiner Generation“. Sein einziger Lichtblick ist seine Kompanie, innerhalb derer er bald freundschaftliche Bande knüpft, vor allem zu Hifa, seiner Nachbarin auf der Mauer. Die beiden überlegen sogar, zu „Fortpflanzlern“ zu werden, was ihnen besondere Privilegien beschert und sie früher vom Dienst auf der Mauer befreien würde. Das Leben sieht gut aus für Kavanagh und Hifa – bis zu einem Vorfall, der alles verändert.

John Lanchesters Roman ist kein atemloser Pageturner, vor allem im ersten Teil spiegelt der Ton die gähnende Langeweile auf der Mauer wider. Das Schaurige an dem Buch ist vielmehr seine Realitätsnähe. Lanchester baut seine bedrückende Welt von Eingesperrten und Ausgesperrten zur Gänze aus Versatzstücken, die bereits Wirklichkeit sind. Alles, was er tun muss, ist sie konsequent weiterzudenken und literarisch zuzuspitzen. Was Lanchester ausgezeichnet kann. Doch das reicht ihm, dem scharfsichtigen Beobachter moderner Gesellschaft, nicht. Diesmal nimmt er seine Leser in die Pflicht und übermittelt ihnen eine kategorische Aufforderung zum Handeln. Denn „die Alten“, die von ihren auf der Mauer Dienst tuenden Kindern nur noch mit Verachtung gestraft werden, diese Alten haben gerade dieses Buch gelesen. 

Neu Erschienen

John Lanchester
„Die Mauer“

Übersetzt von
Dorothee Merkel
Klett-Cotta
348 Seiten
24,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2019)

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