Gehen, ohne stehen zu bleiben

Bei Daniel Wissers Spaziergängen geht es um das Gehen, doch die Tafeln geben oft die nächste Tour vor.
Bei Daniel Wissers Spaziergängen geht es um das Gehen, doch die Tafeln geben oft die nächste Tour vor.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Meine sonntäglichen Gehtouren führen zu bestimmten Zielen, am liebsten zu den unscheinbaren Gedenktafeln. Nach dem Besuch kann ich recherchieren, Daten und Absurditäten, daraus werden dann meist Kurztexte.

Ein indischer Schriftsteller – ich bin nicht sicher, ob es Munshi Premchand war – machte seine erste Reise nach Europa. Aus Spanien oder Italien schrieb er seinen ersten Brief nach Hause: Heute muss hier ein Feiertag sein, denn es sind kaum Menschen auf der Straße, berichtete er sinngemäß. Am darauffolgenden Tag schrieb er dieselben Zeilen, und auch am nächsten und so weiter. Ich kann den Mann gut verstehen. Unvorstellbar, wie verzweifelt er erst an seinem ersten Sonntag in Europa gewesen sein muss. In Österreich empfand ich die Leblosigkeit des letzten Wochentags lang als bedrückend. Als Kind konnte ich mir kaum vorstellen, dass die Werktage der Menschen so schlimm waren, dass sie ihnen den Sonntag vorzogen.

Seit ich freiberuflich tätig bin, ist meine Bedrückung verschwunden. Es gibt Sonntage, an denen ich gar nicht bemerke, dass es Sonntag ist – oder erst spätabends, wenn die Hashtags #Tatort und #ImZentrum die Spitze der österreichischen Twitter-Themen erreichen. Ich arbeite am Sonntag genauso wie an jedem anderen Tag auch. Nur den Nachmittag verbringe ich gerne damit, zu Fuß durch die Stadt zu gehen.
Denn Leblosigkeit hat ihren Vorteil: Man wird in Ruhe gelassen. Und das ist angesichts des Stolzes, mit dem rüpelhaftes Verhalten heute als Ethik, Stil oder Veränderung gefeiert wird, eine wichtige Sache für jemanden, der gehen will, ohne niedergetrampelt oder überfahren zu werden. Österreichs Nationalhelden, die SUV-Lenker, die mit 70 km/h durch die Tempo-30-Zone rasen, dabei ohne Freisprechanlage telefonieren und auf dem Schutzweg kleinen Kindern über die Schuhe fahren, sind am Sonntag kaum unterwegs. (Ich lasse mich übrigens gerne als Kulturpessimisten bezeichnen. Wenn es noch eine Kultur gäbe, die sich verschlechtern könnte, wäre diese Auszeichnung durchaus angebracht.)

Meine sonntäglichen Gehtouren führen zu bestimmten Zielen. Meine Lieblingsziele sind die unscheinbaren Gedenktafeln, die es zu Tausenden in dieser Stadt gibt und die man oft jahrelang nicht bemerkt. Sie informieren darüber, dass eine bestimmte Person in einem Haus geboren wurde, gewohnt hat oder verstorben ist. Je unscheinbarer die Tafel, je vergessener die Persönlichkeit, desto größer mein Interesse. Wenn der fragwürdige Begriff Nationalheld überhaupt noch verwendet werden kann, dann für die vergessenen Frauen und Männer, die dennoch ihre Gedenktafel bekommen haben. Ich gönne auch jedem SUV-Fahrer eine Gedenktafel und finde, sie sollte sich nicht auf einer Hausmauer, sondern auf einem Zebrastreifen befinden.

Am Pfingstsonntag mache ich mich auf den Weg in die Kaiserstraße. Ich habe gelesen, dass dort auf dem Haus mit der Nummer 99 im September 1994 eine Gedenktafel für Johann Georg Lahner errichtet wurde, den Fleischer, der im Jahr 1805 die Frankfurter (oder Wiener Würstchen) erfunden hat und mit ihrer Benennung Gesprächsstoff geschaffen hat, der seit über 200 Jahren nicht langweilig zu werden scheint.

Die Gedenktafel ist keine Diva unter den Sehenswürdigkeiten. Sie hat den Vorteil, dass sie einen nicht mit der Forderung nach pietätvoller und ausreichend langer Betrachtung erpresst. Stehe ich vor einem berühmten Bauwerk, einem kolossalen Dom oder einem großen Kunstwerk, habe ich immer das Gefühl, das zu Betrachtende nicht ausreichend, nicht fertig betrachtet zu haben. Das Fotografieren macht es noch schlimmer. Wenn man fotografiert, bleibt das Gefühl zurück, man habe eben nur fotografiert und nicht wirklich erlebt. Die Gedenktafel lässt mein Gewissen in Ruhe.

Dass ich sie überhaupt bemerke, dass ich einen weiten Fußweg zu ihr mache, belohnt sie damit, dass sie sich durch das Gelesenwerden und ein oder zwei Handyfotos schon sehr geschmeichelt fühlt. Das ist eine Bescheidenheit, die mir wichtig ist, denn bei meinen Gehtouren steht das Gehen im Vordergrund. Das Gehen, ohne stehen zu bleiben.

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