Johanna Rachinger: Ein bisschen Neid auf Amerika

Johanna Rachinger bisschen Neid
Johanna Rachinger bisschen Neid(c) Michaela Bruckberger
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Die Generaldirektorin der Nationalbibliothek, Johanna Rachinger, über ihre Liebe zu Zahlen, den Glücksfall "Google-Bücher" und die vielen Millionen, die ein Bücherspeicher kostet.

Wie ist es zu Ihrem Vertrag mit Google gekommen? Ist der US-Technologiekonzern an Sie herangetreten, oder hatten Sie die Idee, dass Google 400.000 historische Bücher der Nationalbibliothek digitalisiert?

Johanna Rachinger: Wir sind an Google aktiv herangetreten, um diese größte Public Private Partnership, die es jemals in Österreich im Kulturbereich gegeben hat, ins Leben zu rufen. Mir hat die Zusammenarbeit von Google mit den US-Universitätsbibliotheken sehr gut gefallen: Ich habe die Amerikaner sogar ein bisschen beneidet. Dann bin ich in die USA gefahren und habe dort Gespräche geführt – natürlich nicht über die Verträge, weil die streng vertraulich sind, aber das eine oder andere hat man doch erfahren.

Google zahlt 30 Mio. Euro für die Digitalisierung. Hat Sie die Summe überrascht?

Was es teuer macht, ist die Volltextsuche. Aber das ist ja das Revolutionäre an diesem Projekt. Man kann nach Stichwörtern suchen, kann Werke vergleichen. Das kostet pro Buch zwischen 50 und 100 Euro, das hätten wir aus eigener Kraft nicht finanzieren können.

Wie lang müsste man bei Ministern lästig sein, bis man so eine Summe kriegte?

In der jetzigen gewaltigen Finanzkrise, in der die Regierung drastisch sparen muss, gäbe es dafür keine Chance. Ich darf nur an unseren geplanten Bücherspeicher erinnern, der inklusive Einrichtung 60 Mio. Euro kosten würde. Wir sehen im Moment keine Möglichkeit der Finanzierung.

Bleibt das Ihre größte Sorge?

Die Frau Ministerin hat unlängst wörtlich gesagt, dass sie zu 100 Prozent hinter dem Heldenplatz-Speicher steht, dass es derzeit aber sehr schwierig sei, diese Mittel aufzubringen. Wir arbeiten an einer Zwischenlösung, um die nächsten Jahre Zugänge einmieten zu können. Denkbar ist auch, dass man erst einmal nur die Hälfte des Speichers baut, mit der Option auf die zweite Hälfte in zehn oder 20 Jahren. Da kämen wir vorerst auf Kosten von 27 Millionen Euro.

Das Rechnen scheint Ihnen zu liegen. Woher kommt diese Vorliebe?

Rechnen hat mich schon immer interessiert. Meine Eltern hatten ein Gasthaus. Da musste ich immer aufpassen, dass ich richtig herausgebe. Und ich habe eine Handelsakademie besucht.

Studiert haben Sie Geisteswissenschaften.

Theaterwissenschaften und Germanistik. Mein Vater war darüber gar nicht froh. Der hätte lieber gehabt, dass ich etwas Praktisches, Wirtschaftliches mache, kein Orchideenfach. Und dann gab es damals die Palmers-Entführung. Das waren Studenten der Theaterwissenschaften. So ein linkes Institut, und ich aus dem Mühlviertel! Aber in unserem Gasthaus ist immer eine Kulturredakteurin gegessen, eine feine Dame. Ich habe meinem Vater gesagt, dass die auch Theaterwissenschaften studiert hat. Das hat ihn überzeugt.

Hätten Sie ihre Dissertation lieber in einer digitalisierten Zeit geschrieben?

Ich habe meine Dissertation noch auf einer elektrischen Schreibmaschine geschrieben. Es gab noch nicht einmal einen Computer. Wenn ich das heute meinen Neffen erzähle, dann ist das für sie unvorstellbar.

Sehen Sie die Gefahr, dass durch die neuen Methoden das intensive Lesen nachlässt?

Ich weiß nicht, ob es eine Gefahr ist, aber sicherlich gibt es heute eine andere Form des Lesens. Wir sind ständig versucht, schon wieder weiterzuklicken, weil das Angebot so riesig ist und der Zugang so einfach. Ich war ja auch eine Benutzerin der Österreichischen Nationalbibliothek und habe mir Bücher vom Speicher kommen lassen: Man durfte damals nur wenige Bücher auf einmal bestellen und die alten Bände nicht kopieren. Ich habe noch Rezensionen von Theaterstücken mit der Hand abgeschrieben. Das ist heute undenkbar!

Künftig kann die Facebook-Generation gratis in der digitalen ÖNB forschen, und sie kann auch gratis für Sie Arbeit erledigen.

Das ist ja genau der Punkt. An dieser Digitalisierung der Bestände und der Volltextsuche ist so toll, dass neues Wissen generiert werden kann. Wahrscheinlich gibt es Bände, in die noch nie jemand hineingeschaut hat. Durch das Internet wächst die Möglichkeit, dass in alle Bücher hineingelesen wird. Man kann künftig mit diesem Medium ganz andere Formen des Zugangs finden.

Die ÖNB, ein öffentliches Gut, verbindet sich nun eng mit einer großen privaten Firma. Ist das nicht heikel?

Wir haben uns das gut überlegt. Wenn man überzeugt ist, dass diese Inhalte einer möglichst breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen, auch mit modernsten Technologien, das ist ja unser Auftrag, dann muss man diese Möglichkeit ergreifen. Wir stehen unter den europäischen Nationalbibliotheken sicher in vielen Bereichen an der Spitze, haben in den letzten Jahren viel umgesetzt, etwa die Web-Archivierung und das Digitalisierungsprojekt für Zeitungen. Die operativen Entscheidungen liegen bei mir als Geschäftsführerin, und da kann man sich auch schneller bewegen. Ich habe ein sehr, sehr gutes Gefühl, weil wir gut verhandelt haben. Wir haben alle konservatorischen und sicherheitstechnischen Bedenken berücksichtigt. Es hat mit Demokratisierung des Wissens zu tun, dass die Menschen einen möglichst breiten Zugang zur Information haben. Alles andere ist für mich ein elitärer Standpunkt.

Ändert sich durch das Projekt auch die Struktur der Mitarbeiter hier?

Der traditionelle bibliothekarische Bereich wird nicht kleiner. Wir haben trotzdem noch – durch unseren gesetzlichen Auftrag des Sammelns – im Jahr zirka 50.000 physische Bände, die hereinkommen, auch viele Objekte, die wir über unsere Sondersammlungen ankaufen. Das alles muss bestellt, katalogisiert, beschlagwortet werden. Auf der anderen Seite haben wir vor einigen Jahren eine Hauptabteilung „Digitale Bibliothek“ aufgebaut, und das ist ein Bereich, der im Wachsen ist. Wir haben eine Abteilung „Forschung und Entwicklung“, die an sechs EU-Projekten mitarbeitet. Das sind alles Felder, in denen zukunftsorientierte Jobs geschaffen wurden und werden.

Die Ministerin könnte jetzt sagen, Sie haben so viel Google-Geld bekommen, da könnte man bei öffentlichen Geldern sparen...

Ich glaube nicht, dass die Frau Ministerin Schmied die Tüchtigen bestraft. Wir haben in den letzten Jahren durchaus auch bei der Erhöhung der Basisabgeltung mitschneiden können, haben aber sehr klar argumentiert, welche neuen Aufgaben wir haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2010)

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