Houellebecq soll leben!

(c) Die Presse (Michaela Seidler)
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"La carte et le territoire" („Die Karte und das Territorium“), der relativ provokationsarme neue Roman des langjährigen Enfant terrible der französischen Literatur, Michel Houellebecq, wird in Frankreich bejubelt.

Michel Houellebecq ist tot. Er wurde im Haus seiner Kindheit, in das er sich zurückgezogen hat, ermordet und mit einem Laserschneider zerteilt. Polizisten finden die Fleischfetzen über den Raum verstreut. Wer war es?

Der Schlussteil von Houellebecqs neuem Roman „La carte et le territoire“ („Die Karte und das Territorium“) liest sich wie ein Krimi, der Mörder erweist sich als perverser plastischer Chirurg, der im Keller seines Hauses monströse menschliche Schimären hortet. Houellebecq ist also am Ende tot in seinem Roman, während ihm dieser Tage aus dem französischen Feuilleton ein fast einhelliges „Hoch soll er leben“ entgegenschallt. So etwas gab‘s bei diesem Schriftsteller noch nie. Das Wochen vor dem Erscheinen einsetzende Gemunkel und Spekulieren, die totale Fokussierung der medialen Aufmerksamkeit, das schon. Seit „Les particules élémentaires“ („Elementarteilchen“) vor zwölf Jahren zum umstrittenen Kultbuch wurde, bedeutet jeder neue Houellebecq-Roman in Frankreich für den Rest der belletristischen Neuerscheinungen fast schon ein kommerzielles Todesurteil.

Seit „Elementarteilchen“ hat jeder neue Houellebecq-Roman Schlachten und Skandale ausgelöst. Der Autor wurde gefeiert – als Chronist einer im Liberalismus verrotteten Gesellschaft –, und er wurde gehasst: für seine Obszönitäten, seine Verteidigung von Sextourismus (in „Plattform“), Klonen und Eugenik (in „Elementarteilchen“ und „Die Möglichkeit einer Insel“) oder für seinen angeblichen Rassismus (der Islam sei „die dümmste aller Religionen“).

Schlacht um den Prix Goncourt

Mit „La carte et le territoire“ schrumpft die Kampfzone. Die einzige Schlacht, die der Autor mit dem relativ provokationsarmen Buch eröffnet, ist jene um den Prix Goncourt, den im November vergebenen begehrtesten französischen Literaturpreis. Houellebecq will diesen Preis, er scheint besessen von ihm – ein unauflöslicher Widerspruch bei diesem Autor, der sich gern als die Verkörperung des Weltekels präsentiert.

„La carte et le territoire“ ist großartige Literatur. Im Mittelpunkt steht der Maler Jed Martin, der mit einer Ausstellung auf der Grundlage von Michelin-Karten berühmt und reich wird und in dessen Werk sich Houellebecqs eigene Ästhetik spiegelt. Er ist wie alle männlichen Hauptfiguren des Autors sozial isoliert, bis auf eine vorübergehende Liebesbeziehung mit der wunderschönen Russin Olga. Seine einzige konstante, erstaunlich berührend geschilderte Verbindung ist die zu seinem alten Vater, den er jedes Jahr zu Weihnachten trifft. Der Vater lässt sich schließlich in der Zürcher Euthanasie-Anstalt „Dignitas“ umbringen, woraufhin der nachgereiste Sohn eine Angestellte von aseptischer Ungerührtheit verprügelt.

Der Schriftsteller Houellebecq ist nun über fünfzig und alt geworden. Nun ist er besessen vom Tod wie früher vom Sex. Als Romanfigur taucht er zum ersten Mal auf, als Jed Martin ihn um einen Begleittext für den Katalog zu seiner Michelin-Ausstellung bittet. Martin besucht ihn in Irland, er trifft auf ein „gequältes Häuflein Elend“, eine „alte Schildkröte“, die sich für Sex kaum noch interessiert. Statt weiter thailändische Bordelle zu besuchen, werde er sich in die Heimat seiner Kindheit, das Département Loiret, zurückziehen, sagt er – „ich habe dort Baumhäuser gebaut, ich denke, ich kann wieder eine entsprechende Tätigkeit für mich finden. Die Jagd auf Biberratten?“

Der Maler sieht in Houellebecq einen Seelenverwandten, vielleicht sogar Doppelgänger. Er malt sein Porträt, das fast eine Million Euro wert wird, und schenkt es dem Autor. Am Ende wird das Bild im Haus des Mörders wiedergefunden. Herrlich sarkastisch, was auf den Mord folgt – die Lobhudeleien über den „immensen Schöpfer, der uns auf ewig im Gedächtnis bleiben wird“, das Begräbnis, wo der Erzbischof von Paris die Messe für Houellebecq (den bekennenden Atheisten) hält – „nur ganz diskret erwähnte er, wie eine Coda, seine geheime Taufe in einer Kirche von Courtenay“ ?

Houellebecqs vielschichtigster Roman

„La carte et le territoire“ ist vielschichtiger als alle bisherigen Romane des Autors, und weicher. Das vaginabesessene Männchen ist fast verschwunden, dessen seichte sexuelle Ergüsse oft mehr privat als literarisch nötig schienen. Sonst ist Houellebecq auf seine typisch melancholisch-humorvolle Art düster-existenzialistisch, gleichzeitig, so unvereinbar das scheint, ein verzweifelter Romantiker und – noch merkwürdiger – an manchen Stellen fast ein Humanist. Sein Thema bleibt das alte: die absolute Einsamkeit des (westlichen) Individuums. Am Ende seines Lebens stellt Jed Martin Fotos jener Menschen, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, vor seinem Haus auf und filmt, wie sie sich durch die Witterung auflösen; dasselbe macht er mit Spielzeugpuppen.

„La carte et le territoire“ ist vor allem auch ein Roman über die Kunst. Die Handlung erschließt ihren Sinn nur über das Flechtwerk von Anspielungen auf Kunstwerke und -philosophie. (Der Buchtitel verweist auf Martins Michelin-Ausstellung, „Die Karte ist wichtiger als das Territorium“.) Über Houellebecqs Mord bemerkt Martin, die Verteilung der Körperteile im Raum „sieht aus wie ein Jackson Pollock“; ein Polizist liest gerade Gérard Nervals Roman „Aurélia“ (in dem übrigens von der Überlieferung die Rede ist, nach der einem der Tod nahe sei, wenn man einem Doppelgänger begegne). Spuren über Spuren also, nicht nur kriminalistischer Natur.

So sehr der Roman bisher gelobt wurde, ein paar Miesmacher sind doch zur Stelle. Houellebecq habe dem Prix Goncourt zuliebe auf Provokationen verzichtet, spekulieren sie – ein künstlerisch irrelevanter Verdacht, weil in der Literatur nicht persönliche Motive zählen, sondern das Ergebnis. Houellebecq habe Plagiat begangen, behauptet wiederum das Onlinemagazin „Slate“, er habe unter anderem eine Erläuterung zur Hausfliege von Wikipedia abgeschrieben. Dann müsste man auch Thomas Mann vor Gericht zerren, weil er einen seiner besten Kapitelanfänge aus Meyers Konversationslexikon übernommen hat, nämlich die Typhus-Beschreibung in „Buddenbrooks“, seinem Roman über den „Verfall einer Familie“. Houellebecq begnügt sich nicht mit der Familie, er beschreibt den Verfall einer Spezies. Schlusssatz: „Der Triumph der Vegetation ist vollkommen.“

ZUr Person

Michel Houellebecq wurde als Michel Thomas 1958 (laut anderen Quellen: 1956) auf der französischen Insel Réunion geboren. In den 1980ern begann er neben seiner Berufstätigkeit – als Informatiker, später im Agrarministerium – Gedichte zu schreiben, es folgte eine Studie über H.P. Lovecraft.

Durchbruch mit den provokativen Romanen „Ausweitung der Kampfzone“ (1994) und „Elementarteilchen“ (1998). 2005 folgte das Science-Fiction-Buch „Die Möglichkeit einer Insel“. Auch bei seinen Auftritten stilisierte sich Houellebecq mit zugespitzten Äußerungen zum Enfant terrible.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2010)

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