Blick durch viele Schlüssellöcher

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Wieland reiht in seinem Buch der Tagebücher Notizen berühmter Tagebuchschreiber, wie sensibler Autoren oder Weltreisenden und Forschern, aneinander. Er bringt auf so zusammen, was eigentlich nicht passt.

Thomas Mann war in argen Nöten. „Furchtbar meine bis zur Erschöpfung gehende Aufregung gestern Abend mit dem Kindchen“, schreibt er am 11. September 1918 in sein Tagebuch. „Das ,Fräulein‘ auf Urlaub, Katia auf Besorgungen, ich allein mit dem geliebten Wesen.“ Der Dichter musste offenbar auf seine jüngste Tochter Elisabeth aufpassen und war mit dieser Aufgabe reichlich überfordert. 83 Jahre später, am 11.September 2001, hatte die deutsche Autorin Else Buschheuer ein ganz anderes Problem: „NY. 10:25 Ich lebe und müsste eigentlich den neuen Walser lesen, aber wie, wenn das Herz rast und draußen Polizei und im Fernsehen blutige Menschen, die aus den Gebäuden getragen werden. Ist jetzt eigentlich der Turm gefallen? Ich seh nur Qualm.“

Ein Tag, zwei Jahre, zwei Notizen auf einer Seite. „Das Buch der Tagebücher“ heißt der schwere Sammelband, in dem der deutsche Autor Rainer Wieland Tagebucheinträge von 180 Autoren aus 500 Jahren zusammengetragen hat. An jedem Tag im Jahr – von Neujahr bis Silvester – druckt er mehrere kurze Notizen aus Tagebüchern mehr oder weniger berühmter Persönlichkeiten ab. So erfährt man, wie der Marinebeamte Samuel Pepys im Jahr 1662 den Neujahrsmorgen erlebt hat: „Schreckte heute früh aus dem Schlaf hoch und stieß dabei meiner Frau den Ellbogen so unglücklich ins Gesicht, dass sie vor Schmerz aufschrie. Danach wieder eingeschlafen.“ Hans Christian Andersen hatte gut 170 Jahre später, am 1. Jänner 1834, einen noch weniger erfreulichen Morgen. Er litt nämlich an einem Fieber und hatte Alpträume: „Ich träumte in der Morgenstunde von einer Fledermaus, mit der ich kämpfte.“


Aus Kolumbus' Logbuch.
Die kurzen Beiträge machen den Leser zum Voyeur, der durch ein Schlüsselloch in das Seelen- und Privatleben bekannter Autoren blickt. Es sind viele kleine Schlüssellöcher, die Rainer Wieland dem Leser in diesem knapp 700 Seiten dicken Buch offenbart. Der früheste Eintrag datiert auf den 12. Oktober 1492 und stammt aus dem Logbuch von Christoph Kolumbus. Der jüngste Eintrag ist vom 20. Dezember 2007 und stammt as dem Weblog des Berliner Bloggers Airen, dessen online zugängliche Notizen der jungen Autorin Helene Hegemann als Inspiration für ihr Romandebüt dienten.

Wieland schichtet die Einträge von sensiblen Autoren wie Virginia Woolf und Franz Kafka neben die Erlebnisberichte von Weltreisenden und Forschern wie Robert F. Scott, Humboldt oder Darwin. Auch Frauen berühmter Ehemänner, wie Cosima Wagner und Eleanor Coppola, die während der Dreharbeiten ihres Mannes zu dem Film „Apocalypse Now“ ein Tagebuch führte. Auch erotische Notizen, etwa von Frank Wedekind oder Alma Mahler-Werfel, sind in der Sammlung enthalten. Joseph Goebbels kommt hie und da mit seinen bizarren Einträgen zu Wort. Am 7. Jänner 1940 schreibt er knapp: „Film Ben Hur. Alte Judenschwarte. Aber gut gemacht.“

Natürlich, für Gegner der Verknappung und Verkürzung ist dieses Buch der Tagebücher vielleicht nicht das Wahre. Die vereinzelt ausgewählten Eintragungen aus den Diarien von Theodor W. Adorno, Anne Frank, Klaus und Thomas Mann oder Susan Sontag erschließen dem Leser nicht sofort das Wesen und Wirken der jeweiligen Person. Wielands behutsam zusammengestelltes Tagebuch-Jahr darf aber als zweierlei angesehen werden: Erstens als umfangreiche Einladung, die Tagebücher der angeführten Personen in voller Länge zu lesen (im Anhang befindet sich ein ausführliches Personenregister und ein Verzeichnis aller verwendeten Tagebücher).


Dramen im Kleinen. Zweitens als Einladung, sich auf den raschen Wechsel der Zeiten, die Veränderungen des Schreibstils und die unterschiedliche Bedeutung der einzelnen Einträge einzulassen. Da stehen Notizen aus dem Krieg, neben locker-leichten, alltäglichen Berichten über Beziehungen, Ballbesuche und die Silvesterfeier – Dramen im Kleinen, sozusagen.

Zudem verraten die Notizen enorm viel über die jeweilige Zeit, aus der sie stammen. Dieser Blick durch die vielen Schlüssellöcher ist nicht nur für Neugierige empfehlenswert.

NEU ERSCHIENEN

Rainer Wieland (Hrsg.)
Buch der Tagebücher

Piper Verlag, 704 Seiten, 41,10 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2010)

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