Peter L. Berger: „Am zweitliebsten wäre ich ein Muslim“

bdquoAm zweitliebsten waere Muslimldquo
bdquoAm zweitliebsten waere Muslimldquo(c) EPA (ALI ALI)
  • Drucken

Auch Muslime werden immer häretischer, sagt der US-amerikanische Religionssoziologe Peter L. Berger. Am Islam liebt der 81-jährige gebürtige Wiener „die absolute Majestät Gottes“.

Die Presse:Häresie bedeutete ursprünglich einfach „Wahl“. Sie haben den Begriff „häretischer Imperativ“ geprägt, um auszudrücken, dass die Menschen ihre Religion heute frei wählen bzw. basteln können – und müssen. Wie weit passiert das wirklich? Hat die Mehrheit nicht immer noch am liebsten, dass man ihr die Wahl abnimmt?

Peter L. Berger: Es gibt natürlich gewisse soziale und psychische Limits, in Österreich ist es einfacher, ein nicht praktizierender Katholik zu sein, als zum Buddhismus überzutreten. In Amerika war das immer schon anders, allerdings entfernen sich auch dort die Menschen nicht allzu weit vom Glauben, in den sie geboren wurden. Ein Presbyterianer wird vielleicht ein Episkopaler, aber nicht unbedingt ein Buddhist. Trotzdem gibt es schätzungsweise 800.000 Konvertiten zum Buddhismus in den USA, fast alles weiße Amerikaner.

In Österreich haben auch viele nicht praktizierende Menschen ein vages Zugehörigkeitsgefühl der katholischen Kirche gegenüber. Die Sehnsucht nach Institutionen scheint tief verwurzelt.

Totale Freiheit ist natürlich eine Fantasie. Die Freiheit des Einzelnen hat sich in den vergangenen Jahrhunderten aus Notwendigkeit etabliert; dann wurde aus der Notwendigkeit eine Tugend, und heute ist es ein Glaubenssatz. Ohne Institutionen geht es aber nie – was nicht institutionalisiert wird, verschwindet von einer Generation zur nächsten. Die Frage ist: Wie schauen diese Institutionen aus? Das müssen keine Kirchen sein. Eine Institution ist etwas, was den Leuten ein Programm anbietet.

Nur die wenigsten Muslime können sich wohl mit Ihrem „häretischen Imperativ“ anfreunden.

Aber die Häresie passiert. Die Realität tritt immer mehr in Konflikt mit traditionellen Formulierungen. Nehmen wir als Beispiel die Apostasie: Die Abkehr vom Glauben ist im Islam eine furchtbare Sünde. Aber sie ist real möglich, und das wissen die Leute auch. Die totale Abwendung passiert meist nicht, aber es wird gebastelt: „Ich bin Muslim, aber ...“ Fundamentalistischen Bewegungen kommen ja auch aus dieser Erfahrung einer Pluralisierung des sozialen Lebens. Fundamentalismus ist der Versuch, Selbstverständlichkeiten wiederherzustellen. Man kann ihn nur vor diesem Hintergrund verstehen: dass die Bedrohung schon stattgefunden hat.

Sie sind als Sohn jüdischer Eltern geboren und wurden als junger Mann aus eigener Entscheidung Christ und lutherischer Protestant. Haben Sie sich im Zuge Ihrer religiösen Suche auch mit dem Islam beschäftigt?

Ich hatte immer viel Sympathie für den Islam. Mein älterer Sohn hat mich gefragt, was ich denn wäre, wenn ich nicht Christ wäre. Er hatte wohl eher „Buddhist“ oder anderes erwartet, aber ich sagte: Muslim. Es gibt in dieser Religion gewisse Elemente, die ich anziehend finde: das Gefühl der absoluten Majestät Gottes, dass man sich Gott im Glauben absolut hingeben kann, dass er es gut mit einem meint. Das alles zeigt sich für mich besonders in der islamischen Architektur. Bei meinem ersten Besuch in Istanbul versuchte ich vergeblich, zuhause anzurufen, weil eines meiner Kinder krank war, ich war sehr beunruhigt. Mein Gastgeber hat mich dann in die blaue Moschee geführt. Sie war völlig leer, und dieser riesige Raum, die Anwesenheit Gottes in dem leeren Raum, in der Stille – das hat mich beruhigt. Danach habe ich angerufen: Es war alles in Ordnung.

In Amerika unterscheidet sich das Verhältnis von Staat und Religion deutlich von europäischen Traditionen. Ist dieses System das bessere, soll sich Europa hier also „amerikanisieren“?

Es stimmt, Europa hat immer noch ein Problem, religiöse Pluralität zu akzeptieren. Die USA hingegen haben durch ihre Geschichte ein recht erfolgreiches System entwickelt. Der Staat mischt sich nicht ein, gleichzeitig wird es akzeptiert, dass die Menschen ihre religiösen Überzeugungen in Politik übertragen wollen. Aber man spricht oft von Amerikanisierung, als gehe es um einen direkten Einfluss – dabei handelt es sich einfach um Modernisierungsprozesse.

Was kann ein Religionssoziologe zum Verhältnis von Religion und Gewalt sagen – sind religionsfreie Gesellschaften auch gewaltfreier?

Es gibt eine neue Gruppe von Atheisten, die sagt, die Religionen seien schuld daran, dass es in der Welt so viel Gewalt gebe, ich halte das für Unsinn. All das passiert in nicht religiösen Gesellschaften genauso, die größten Schrecklichkeiten im 20.Jahrhundert wurden von nicht religiösen bzw. atheistischen Regimen ausgelöst. Ich liebe Gilbert K. Chesterton, der gesagt hat: Die Erbsünde ist das einzige christliche Dogma, für das man keinen Glauben braucht – man muss sich nur umsehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.