Die unteren Schichten der Haut

Zwei deutsche Dermatologenpaare und eine schwarze Filmemacherin, die zum Thema »Haut« recherchiert. Das ist der unglaubliche Stoff für Sylvie Schenks bravourösen Roman.

Die Haut ist der Bezug, der das Innere vor der Außenwelt schützt. Die Haut ist aber auch jene Oberfläche, auf die sich mitunter unser Inneres seinen Weg bahnt. Pickel, Akne, Schuppen, Warzen, Muttermale, Rötungen, Geschwüre.

Der junge Dermatologe Viktor ist von der menschlichen Haut fasziniert. Er legt seinen Patienten die Hand auf, keine Erkrankung kann in ihm Ekel hervorrufen, er streicht sanft über die wunden Stellen und will sie lindern. Viktor ist ein schulmedizinischer Heiler im weißen Kittel. Aber so sehr der bemühte Jungarzt die Haut liebt, so sehr ist er auch in ihr gefangen. In seiner Haut.

Der Beziehung zu seiner Freundin Klara sind Grenzen gesetzt, die er nicht wahrhaben möchte. Klara, die bildhübsche Musiklehrerin und verhinderte Sängerin, hat sich am Anfang der Liebesbeziehung Viktors Wunsch nach einer brav-bürgerlichen Existenz gebeugt. Und nun wirft sie ihm das immer öfter vor. Dabei möchte Viktor seine Freundin einfach nur weiter lieben, so wie bisher.


Roman im Dermatologenmilieu. Klara und Viktor sind eines der beiden Paare im Roman „Der Gesang der Haut“. Die französisch-deutsche Autorin Sylvie Schenk hat einen Roman über Paare im Dermatologenmilieu geschrieben. Der zweite Kristallisationspunkt der Geschichte sind Henrietta und Gert Gerlach.

Er ist ein agiler Hautarzt kurz vor der Pensionierung, fast krankhaft auf der Suche nach sexueller Selbstbestätigung, was sich in ständig neuen Flirts und Liebschaften mit vor allem jungen Frauen niederschlägt. Henrietta ist eine hoffnungslos eifersüchtige und ihrem Ehegatten hoffnungslos ergebene Frau, deren Zuneigung sich an das Missverständnis klammert, in ihrer Jugend von Gerlach erwählt worden zu sein.

Viktor will die Praxis des Alten in einem gediegenen Stadtviertel Kölns übernehmen und so treffen sie aufeinander, zwei Paare, unterschiedlich und doch in gewisser Weise Spiegel und Zerrbild voneinander. Schenk, deren bereits dritter Roman eben vom Picus Verlag veröffentlicht wurde, erweist sich in ihrem neuen Buch einmal mehr als psychologische Meistererzählerin.


Schmerzhaftes Leseerlebnis. In ihrem Vorgängerbuch „Parksünder“ ließ die 1944 in Frankreich geborene Autorin einen rechtskonservativen Franzosen über die Gefahr der Linken und Moslems für die französische Kultur fantasieren: Ein Mann, der sich letztlich selbst in die Enge treibt. Auch in ihrem neuen Roman kennt sie kein Pardon mit ihren Protagonisten, niemandes Haut bietet Schutz vor der bohrenden Neugier und Aufmerksamkeit der Autorin.

Es ist ein fast schmerzhaftes Leseerlebnis zu erfahren, wie Gerlachs ständige Betrügereien auf die Selbsttäuschung seiner Ehefrau Henrietta angewiesen sind, wie Gemeinheit und Kränkung einander bedingen, oder Dominanz und freiwillige Unterordnung. Dass die Arztgattin ihrem Mann eine Alzheimererkrankung andichten will, ist nichts anderes als der verzweifelte Versuch, ihm ein wenig von seiner Macht über sie nehmen zu wollen.


Große Feier zum Schluss. Langsam und leise, aber unaufhörlich, steuern die beiden Paare auf ein großes Finale zu, das sich schließlich bei der großen Pensionierungsfeier ereignet, zu der Dutzende Gäste geladen sind. Durch gekonnten Perspektivenwechsel und eine weitere, die Ereignisse kommentierende Erzählstimme – die junge Filmemacherin Moira, eine attraktive schwarze Frau, die von der unbeteiligten Chronistin zu einer wichtigen Spielerin in dem Beziehungsgeflecht wird und am Ende dafür beinahe mit ihrem Leben bezahlen muss – schafft Schenk eine fast unerträgliche Spannung und eine fantastische Inszenierung ihres Stoffs.

Am Schluss ist die bürgerliche Welt aus den Angeln gehoben, sind die zivilisatorischen Schutzschichten abgekratzt. Und Viktor muss fliehen, um seine eigene Haut zu retten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2011)

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